Freitag, 19. April 2024

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Nach Brand in Flüchtlingslager Moria
Bütikofer (Grüne): Nicht auf Generallösung der EU warten

Statt in der Migrationspolitik in Trippelschritten voranzugehen, müsse Deutschland jetzt humanitär handeln, sagte der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer im Dlf. Nur weil die EU sich noch nicht auf eine Generallösung geeinigt habe, dürfe man nicht das offenkundig Nötige verweigern.

Reinhard Bütikofer im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 14.09.2020
Geflüchtete sitzen und stehen zwischen UNHCR-Zelten im neuen vorübergehenden Aufnahmelager für Flüchtlinge in Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos am Samstag, den 12. September 2020.
Geflüchtete im neuen vorübergehenden Aufnahmelager für Flüchtlinge in Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos (imago images / ANE Edition)
Seit dem Brand im Lager Moria am 8. September sind tausende Menschen obdachlos. Ein neu errichtetes Zeltlager bietet Platz für 3.000 Menschen. Wo die übrigen rund 9.000 Migranten unterkommen sollen, steht noch nicht fest. Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte zu, dass Deutschland in einem ersten Schritt 100 bis 150 minderjährige Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager auf Lesbos aufnehmen werde.
Dieses Angebot sei völlig außerhalb jeder Relation des Problems, sagte der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen) im Dlf.
Der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen) Sauer/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen): „Ich kann nicht bürokratisch vernünftelnd mit einer Situation in Trippelschritten umgehen, wo offenkundig große Not herrscht." (dpa-Zentralbild/Stefan Sauer)
Natürlich brauche die Europäische Union eine gemeinsame Flüchtlingspolitik - Europa dürfe jedoch nicht, nur weil man noch keine Generallösung gefunden habe, das offenkundig Nötige verweigern. "Die Gefahr, dass sich einige Länder wegducken gibt es immer", sagte Bütikofer, "aber wenn wir jetzt schon zehn Länder haben, die bereit sind mitzumachen, kann man mit den zehn mutig vorangehen". Deutschland könne so viele Geflüchtete aufnehmen, wie von Kommunen und Bundesländern angeboten worden seien.
09.09.2020, Berlin: Gerd Müller (CSU), Entwicklungsminister, äußert sich zur Unterzeichnung einer Absichtserklärung durch die Diakonie und den Caritasverband mit dem Ziel, die Beschaffung von Textilien nachhaltiger zu gestalten und damit zu einer Verbesserung der Menschenrechts-, Sozial- und Umweltstandards entlang globaler Lieferketten und in den Produktionsländern beizutragen. Das Textilsiegel "Grüner Knopf" ist vor einem Jahr an den Start gegangen. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa | Verwendung weltweit
Müller (CSU): "Nirgendwo herrschen solche unterirdischen Zustände"
Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) drängt nach dem Brand im griechischen Flüchtlingscamp Moria auf schnelle Hilfe. Die Menschen müssen verteilt werden. Deutschland könne dabei ein Zeichen setzen.
Das Argument eines "Pull Effekts", also dass die einmalige Aufnahme von Geflüchteten einen verstärkter Zuzug von Migranten nach sich ziehe, sei nicht stichhaltig, sagte Bürtikofer: "Das ist eine Art von Argumentation, die sich einfach gegen das menschliche Mitgefühl abzuschotten versucht."
Zudem äußerte sich Bütikofer zu den Ergebnissen der Kommunalwahlen in NRW, bei der die Grünen laut Hochrechnungen Stark zugelegt haben.

Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Vielleicht zu Beginn ein kurzer Blick auf die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen. Die Grünen haben ein Rekordergebnis eingefahren. Worauf führen Sie das zurück?
Reinhard Bütikofer: Die Umfragestatistiken weisen vor allem auf zwei Gründe hin. Wir haben offensichtlich extrem gut abgeschnitten bei den Jungwählern bis 24 Jahre. Wenn man den Zahlen trauen darf, haben wir da fast ein Drittel der Stimmen bekommen. Und dann zweitens thematisch ist offensichtlich die Klimapolitik wieder auf Platz eins des Interesses und der Sorgen der Bürgerinnen und Bürger gerückt. Ich denke, auch das hat eine Rolle gespielt.
Heckmann: Die Grünen sind trotzdem nicht zweitstärkste Kraft geworden, wie man sich das möglicherweise ausgerechnet hat. Die CDU bleibt stärkste Kraft. Rechnen Sie jetzt damit, dass Armin Laschet das Rennen um den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur macht?
Bütikofer: Das überlasse ich mal der Union. Die sollen sich sortieren.
Heckmann: Was würde das für Sie bedeuten? Wäre das ein Zeichen auch für Schwarz-Grün auf Bundesebene?
Bütikofer: Sie wissen ja, dass wir gegenwärtig nicht geneigt sind, solche Koalitionsspekulationen ins Zentrum zu rücken, sondern dass wir versuchen, im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern uns um die Themen zu kümmern, die denen auf den Nägeln brennen. Deswegen lege ich das mal jetzt wirklich zur Seite. Warum soll ich spekulieren, ob jemand möglicherweise für eine Koalition gut ist, von dem ich noch nicht mal weiß, ob er es wird.
Heckmann: Gut! Das werden wir weiter beobachten. – Im Zentrum der Diskussion im Moment steht die Flüchtlingspolitik. Wir haben es gerade noch mal gehört. Die SPD erhöht den Druck. Ihre Parteifreundin Claudia Roth, die stellvertretende Bundestagspräsidentin, wirft Innenminister Seehofer Totalversagen vor bei dem Thema. Teilen Sie diese Ansicht?
Bütikofer: Ja, das teile ich. Ich glaube, das müsste eigentlich Herr Seehofer selbst merken, dass dieses "Angebot", das er da macht, so völlig außerhalb jeder Relation zu dem wirklichen Problem ist, dass es mehr als beschämend ist.
Eine Frau hält einen Karton mit der Aufschrift: "Hilf uns Europa" während eines Protestes nach den Nachrichten über die Schaffung eines neuen provisorischen Flüchtlingslagers auf der Insel Lesbos hoch.
Daniel Caspary (CDU): "Wir brauchen eine grundsätzliche Lösung"
Trotz der Bilder aus Moria müsse man grundsätzliche Fragen zur europäischen Asylpolitik klären, sagte der Chef der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, Daniel Caspary, im Dlf. Die Bundesregierung müsse mehr Druck auf blockierende EU-Staaten ausüben.
Heckmann: Er sagt aber auch, ein zweiter Schritt wird folgen. Ihm persönlich sei wichtig, dass auch Familien mit Kindern aufgenommen werden in Europa, aber in europäischer Abstimmung. Was ist dagegen zu sagen?
Bütikofer: Dagegen ist zu sagen, dass es ein altes deutsches Sprichwort gibt, das heißt: Not kennt kein Gebot. Ich kann nicht bürokratisch vernünftelnd mit einer Situation in Trippelschritten umgehen, wo große Not offenkundig jetzt herrscht. Da muss ich jetzt humanitär handeln. Und wenn sogar Herr Söder das anfängt zu begreifen, dann könnte es ja vielleicht auch in das Hirn von Seehofer.
Heckmann: Wichtige Teile der Union argumentieren aber: Wenn jetzt Deutschland von sich aus sagt, wir nehmen 1000, 2000 oder 5000 Flüchtlinge auf, dann wird sich das Lager in Moria schnell wieder füllen, dann wird wieder Feuer gelegt und dann steht Deutschland wieder alleine da. Und Horst Seehofer hat betont, wie andere Unions-Politiker auch, man sei sich doch einig: 2015 dürfe sich nicht wiederholen.
Bütikofer: Wissen Sie, das ist eine Art von Argumentation, die sich einfach gegen das normale menschliche Mitgefühl abzuschotten versucht. Natürlich brauchen wir eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik. Es gibt so viel, was wir eigentlich bräuchten. Wir brauchen auch in der Klimapolitik eigentlich viel durchgreifendere Schritte. Wir brauchen auch in der Unterstützung der Demokraten in Weißrussland viel durchgreifendere Schritte. Aber man kann doch nicht, weil man die Generallösung noch nicht gefunden hat, jetzt im Moment das offenkundig Notwendige verweigern.
"Mutig vorangehen und nicht so kleinkariert"
Heckmann: Aber sehen Sie nicht die Gefahr, Herr Bütikofer, wenn Deutschland jetzt sagt, ja, wir machen die Türen auf, dass sich viele andere europäische Länder dann wegducken?
Bütikofer: Die Gefahr, dass andere Länder sich wegducken, die gibt es. Die gibt es seither schon, die wird es auch auf Dauer geben. Ich glaube, dass wir eine flexible Lösung brauchen, wo wir dafür sorgen müssen – das hat Herr Juncker vor Jahren schon mal vorgeschlagen, das fand ich damals vernünftig –, dass diejenigen, die partout sich da sperren, dann wenigstens an anderer Stelle in die Verantwortung genommen werden, zum Beispiel finanziell. Aber wenn wir jetzt schon zehn Länder haben, die bereit sind mitzumachen, dann sind wir ja über dem Punkt, wo wir sagen müssen, nur Deutschland hat überhaupt irgendwie die Augen aufgemacht und alle anderen stecken noch den Kopf in den Sand, da sind wir doch schon drüber weg. Da kann man doch jetzt mal mit den zehn mutig vorangehen und nicht so kleinkariert.
Heckmann: Was schlagen Sie denn vor, um nicht so kleinkariert zu sein? Alle diese 12.000 Flüchtlinge aufzunehmen in Deutschland?
Bütikofer: Ich schlage vor, dass Deutschland so viele Leute aufnimmt, wie jetzt durch Angebote von Städten und Ländern aufgenommen werden können.
Heckmann: Das Argument, das ins Feld geführt wird, dass dadurch ein Pull-Effekt ausgelöst werde, das sehen Sie nicht als stichhaltig an?
Bütikofer: Nein, das halte ich nicht für stichhaltig.
Heckmann: Wieso nicht?
Bütikofer: Weil es jetzt nicht ein systematisches Handeln ist von unserer Seite, wo wir versprechen, wir werden jedes Mal, wenn jemand sich meldet und um Asyl bittet in Europa, sagen, kommt zu uns, sondern das ist eine Sondersituation, eine Notsituation, in der man humanitär handeln muss. Und ich finde, gegenüber dem humanitären Gebot gilt diese Verrationalisierung des harten Herzens nicht.
"Seit längerer Zeit intensiv dafür geworben, dieses Lager zu räumen"
Heckmann: Jetzt vertritt ja der eine oder andere, Herr Bütikofer, die These, die EU habe diese unhaltbaren Zustände in Moria akzeptiert, um damit weitere Flüchtlinge abzuschrecken. Das ist eine sehr scharfe These über eine Europäische Union mit nicht gerade menschlichem Antlitz. Teilen Sie diese These?
Bütikofer: Ich kann Ihnen sagen, dass viele meiner Kollegen im Europäischen Parlament, mich eingeschlossen, seit längerer Zeit intensiv dafür geworben haben, dieses Lager zu räumen, weil die Gefahr, dass dort so was passiert, nicht ausgeschlossen werden konnte. Und ich finde, im Nachhinein stellt sich heraus, dass es klüger gewesen wäre vorzusorgen, als sich in eine solche dramatische Situation reinzumanövrieren.
Heckmann: Das Problem ist ja kein allein nationales, das Deutschland nur allein betrifft, sondern natürlich alle Mitgliedsländer der Europäischen Union. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat jetzt Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz als "Missetäter" bezeichnet, weil er zu denen gehöre, die eine europäische Lösung des Problems blockierten. Teilen Sie diese Ansicht?
Bütikofer: Ich finde, der Herr Asselborn nimmt gern mal den Mund voll, insbesondere wenn es darum geht, sich selbst als den einzig Gerechten zu präsentieren und alle anderen haben es nicht begriffen. Ich weiß nicht, ob die Reihum-Beleidigung anderer europäischer Regierungschefs jetzt irgendwas zu einer Lösung des Problems beiträgt.
Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag, aufgenommen bei der Klausur der Grünen-Bundestagsfraktion
Göring Eckardt (Grüne): "Eine europäische Lösung kommt mir wie eine große Ausrede vor"
Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, hat sich im Dlf entsetzt gezeigt über die Zustände nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria. Sie forderte die Regierung auf, geflüchtete Menschen aufzunehmen.
Heckmann: Sind Sie deswegen auch so zurückhaltend, weil Ihre Parteifreunde von den Grünen in der österreichischen Regierung vertreten sind und im Prinzip den Kurs von Sebastian Kurz mittragen müssen?
Bütikofer: Nein! Ich habe deswegen diese Auffassung aus den Gründen, die ich Ihnen erklärt habe. Aber dass unsere Kollegen in Österreich da ein leichtes Los gezogen hätten in dieser Koalition, kann man nun wirklich nicht behaupten. Sie haben dort ein Koalitionsmodell gewählt, das ich mir für Deutschland auf gar keinen Fall wünschen würde, egal mit wem. Sie haben nämlich vereinbart, dass jeder Minister für sein Ressort zuständig ist, und das heißt dann, wenn die Minister der ÖVP oder der Kanzler selbst für die Flüchtlingsproblematik zuständig ist, dann macht er das im Alleingang. Das halte ich nicht für richtig. Ich glaube, man muss in der Regierung darum kämpfen, dass man eine gemeinsame Verantwortung hat, und sich dann im Zweifel auch darum prügeln, wie die ausgetragen wird, wie die ausgemünzt wird. Aber die österreichischen Grünen sind da in einer hilfloseren Position in der Regierung, als ich es mir wünschen würde.
Heckmann: Aber gerade wenn es um so ein wichtiges zentrales Thema geht, müsste man da nicht dann auch Konsequenzen ziehen?
Bütikofer: Und was wollen Sie? Sie hätten gerne, dass jetzt wieder die FPÖ in die Regierung kommt, damit es für die Flüchtlinge besser wird, oder wie?
Heckmann: Nee, nee! Ich will gar nichts. Ich will nur Ihre Einschätzung wissen.
Bütikofer: Ja, gut! Aber ich meine, genau diese Frage muss man sich doch stellen, oder?
Heckmann: Das heißt, den Grünen in Österreich bleibt nichts anderes übrig, als in der Regierung zu bleiben und diesen Kurs von Sebastian Kurz mitzutragen?
Bütikofer: Das habe ich nun gerade nicht gesagt. Das haben die Hörer auch gehört, dass ich das nicht gesagt habe. Sondern ich denke, man muss in der Regierung so gut man kann dafür kämpfen, dass wenigstens ein Minimum der eigenen Verantwortlichkeit auch zum Tragen kommt. Es gibt sicher Punkte, wo man dann einen Strich ziehen muss, aber das beurteile ich jetzt nicht bei Ihnen hier heute Früh als Ferndiagnose.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.