Freitag, 19. April 2024

Archiv

Nach dem Berliner Attentat
"Anschläge nicht dazu nutzen, Politik zu betreiben"

Der Anschlag in Berlin dürfe nicht dazu genutzt werden, bestimmte Parteien auf die Anklagebank zu setzen, forderte der Leiter des Kölner Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagement, Thomas Weber, im DLF. Auch die Medien sollten ihrer Verantwortung gerecht werden und vorsichtig sein im Umgang mit konkreten Bildern.

Thomas Weber im Gespräch mit Ute Meyer | 20.12.2016
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (3vl, CDU) besucht zusammen mit (l-r) Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), Andreas Geisel (SPD), Berliner Innensenator, und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 20.12.2016 den Anschlagsort auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. Bei dem Anschlag mit einem Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche am Montagabend (19.12.2016) in Berlin wurden zwölf Menschen getötet, mehr als 50 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt.
    "Es ist sehr, sehr wichtig, dass die Politik hier Flagge zeigt": Der Psychologe Thomas Weber über die Reaktion der Bundesregierung nach dem Anschlag in Berlin. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Durch die medialen Bilder sei man "sehr nah am Geschehen dran" und "fast live bei den Ereignissen dabei", kritisierte Weber. Auch dadurch sei bei vielen das Gefühl der Angst konkret vorhanden: "Was gestern passiert ist, erinnert uns an unsere eigene Verletzbarkeit und an den größten Albtraum." Trotzdem sei das Risiko, selbst Opfer eines Attentats zu werden, immer noch verschwindend gering in Deutschland.
    "Opfer werden sehr, sehr schnell vergessen"
    Zudem plädierte Weber dafür, auch mittel- und langfristig für die Betroffenen von Anschlägen dazusein: "Es geht darum, dass wir den Menschen Hilfe auch für die nächsten Wochen und Monate anbieten." In der Gesellschaft würden Opfer sehr, sehr schnell vergessen. Die anfängliche Betroffenheit weiche sehr schnell einer Vermeidung, da die Bevölkerung so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückkehren wolle. "Die Opfer haben allerdings lebenslänglich", betonte der Psychologe.

    Das Interview in voller Länge:
    Ute Meyer: Am Tag nach dem Anschlag sitzt der Schock über die Toten und Verletzten tief. Kanzlerin Merkel hört man in ihren Stellungnahmen an, dass sie sichtlich mitgenommen ist. Und wir können nur erahnen, was es bedeutet, unmittelbar von dem Anschlag betroffen zu sein - sei es als Augenzeuge oder gar als Opfer oder als Angehöriger.
    Ich spreche nun mit Thomas Weber. Er ist Psychologe und Leiter des Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagement in Köln. Das ist eine Einrichtung, die unter anderem Opfer und Angehörige nach Katastrophenfällen betreut. Herr Weber, wie kann man den Opfern und den Angehörigen und auch den Augenzeugen dieses Attentats von Berlin jetzt helfen?
    Thomas Weber: Wir brauchen jetzt vor allen Dingen Zeit - Zeit, dass die Betroffenen tatsächlich zum einen erst mal begreifen können, was da passiert ist, weil viele stehen heute immer noch unter Schock, und dann vor allen Dingen, dass wir sehr, sehr mittel- und langfristig für die Betroffenen auch da sind. Das heißt, es geht jetzt nicht darum, die nächsten zwei, drei Tage zu überbrücken, sondern es geht darum, dass wir den Menschen Hilfe auch für die nächsten Wochen und Monate anbieten.
    Meyer: Wird es eine solche Hilfe geben?
    Weber: Das wird mit Sicherheit organisiert. Das ist in der Tat so. Man unterscheidet hier immer zwischen einer sogenannten direkten, kurzfristigen Hilfe. Das heißt, die Akuthilfe, die wird dann meistens abgelöst mit mittel- und langfristigen Angeboten, und da wird die Stadt Berlin beziehungsweise alle Verantwortlichen auch alles dafür tun, dass das gewährleistet werden kann.
    "Wir wollen so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurück"
    Meyer: Meine Frage hat natürlich einen Hintergrund. Jetzt ist der Fokus, die Aufmerksamkeit groß. Jetzt gibt es Notfallseelsorge. Aber oft wird auch darüber geklagt, dass mittel- und langfristig die Opfer in Vergessenheit geraten. Stimmt das?
    Weber: Ja, das ist zum Teil richtig. Vor allen Dingen in der Öffentlichkeit, vor allen Dingen auch bei uns in der Gesellschaft werden Opfer sehr, sehr schnell vergessen. Die anfängliche Betroffenheit weicht dann sehr schnell einer Vermeidung. Das heißt, wir als Allgemeinbevölkerung wollen so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückgehen. Die Opfer haben allerdings lebenslänglich. Deswegen ist es vor allen Dingen nach zwei, drei Monaten und auch später wichtig, dass wir den Opfern auch immer noch beistehen.
    Aber wir kennen das in der Tat aus der Vergangenheit. Ob das beispielsweise bei dem Tsunami 2004/2005 war, wo am Anfang sehr, sehr viele Hilfsangebote von allen Teilen der Bevölkerung eingerichtet worden sind; nach zwei, drei Monaten wollte allerdings die Öffentlichkeit von den Opfern beziehungsweise auch von dem Leid der Opfer nichts mehr hören oder beziehungsweise wenig hören.
    Das ändert sich dann wieder mit einer gewissen Zeit. Aber wie gesagt: Opfer brauchen tatsächlich sehr, sehr viel Zeit und wir müssen denen vor allen Dingen sehr viel Zeit geben.
    "Es gibt relativ schnelle Unterstützung für Gewaltopfer"
    Meyer: Aber werden denn Gelder bereitgestellt und auch professionelle Helfer, die den Opfern auch langfristig helfen? Hat sich die Situation da verbessert in den letzten Jahren aus Ihrer Sicht?
    Weber: Ja, die Situation hat sich zumindest für die Gewaltopfer zumindest in der Hinsicht geändert, dass es hier tatsächlich relativ schnelle Unterstützung gibt, und auch da wird die Politik beziehungsweise auch alle Beteiligten in den nächsten Monaten sich zusammensetzen und Lösungen finden müssen.
    Weil wie gesagt: Es ist wichtig, dass vor allen Dingen Betroffene, die auch eventuell erst nach einem dreiviertel Jahr oder nach einem Jahr Hilfe suchen, weil sie es bisher auch alleine versucht haben - und etliche bekommen es ja auch alleine hin und das ist auch vollkommen in Ordnung, dass viele Menschen es erst mal selbstständig versuchen. Aber wir müssen sicherstellen, dass diese tatsächlich auch noch nach einem Jahr jeder Zeit Hilfe bekommen können.
    Meyer: Wenn Kanzlerin Merkel oder auch Präsident Gauck oder der Regierende Bürgermeister von Berlin den Angehörigen ihr Beileid ausdrücken, Pressestatements abgeben, den Tatort besuchen, Blumen niederlegen, wie wertvoll sind solche Gesten?
    Weber: Das ist ganz wichtig, weil es noch mal deutlich macht, was hier für ein besonderes Ereignis passiert ist. Wie gesagt, es ist ein fürchterlicher Terroranschlag gewesen. Das heißt, dass die Politik hier Flagge zeigt, ist in der Tat sehr, sehr wichtig.
    Das, was aber nicht vergessen werden darf: Es gibt sehr, sehr viele Unfallopfer, es gibt sehr viele Gewaltopfer, die natürlich als Einzelfall nie diese Aufmerksamkeit bekommen werden. Aber in diesem konkreten Fall halte ich das für sehr wichtig.
    "Wir haben alle Angst, selbst so was zu erleben"
    Meyer: Was solche Terroranschläge hervorrufen ist ja ein Gefühl der Angst, auch der allgemeinen Unsicherheit, zum Beispiel auch jetzt noch auf einen Weihnachtsmarkt zu gehen. Wie müssen wir alle dieser Angst begegnen?
    Weber: Die Angst ist erst mal vollkommen normal, weil das, was den Menschen in Berlin passiert ist, die konkret vor Ort waren, ist das, was unser größter Albtraum ist. Das heißt, wir haben alle Angst, jeweils selbst so was zu erleben, und wir sind natürlich sensibilisiert. Das heißt, dieses typische Gefühl in der Gesellschaft, die Ereignisse kommen immer näher. Das heißt, das, was gestern passiert ist, erinnert uns an unsere eigene Verletzbarkeit und an den größten Albtraum.
    Und es gibt natürlich diese typischen Gefühle, dass Menschen jetzt auf Weihnachtsmärkten oder generell in den Einkaufsstraßen zusammenzucken. Wir haben es in Paris beispielsweise nach den Anschlägen erlebt, dass jedes Geräusch sozusagen natürlich fast schon eine biologische oder sichtbare Körperreaktion nach sich zieht. Die Gereiztheit ist tatsächlich in allen Gliedern vorhanden. Insofern ist das erst mal ein ganz normales Gefühl.
    Wichtig ist es jetzt tatsächlich, wenn wir die statistische Wahrscheinlichkeit einfach mal heranziehen, dass das Risiko natürlich, selbst Opfer eines solchen Attentats zu werden, immer noch verschwindend gering ist in diesem Land. Es ist eher wahrscheinlicher, dass Sie Opfer eines Verkehrsunfalls oder Ähnliches werden.
    Aber das Gefühl ist erst mal konkret da, natürlich, weil wir auch durch die medialen Bilder sehr, sehr nah an dem Geschehen dran sind. Das unterscheidet das von früher. Da waren wir immer nur mit Dingen konfrontiert, die in unserer unmittelbaren Umgebung passiert sind. Durch die medialen Bilder sind wir natürlich jetzt fast live an den Ereignissen dabei.
    "Medien müssen Aufklärung betreiben"
    Meyer: Wo Sie mir gerade das Stichwort geben: mediale Bilder. Sie sagen, die Medien "helfen" dabei, die Angst zu vergrößern. Können Medien auch dabei helfen, dann wieder zu rationalisieren und dieser Angst Herr zu werden?
    Weber: Ja, Medien müssen Aufklärung betreiben. Medien sollten vorsichtig sein im Umgang auch mit konkreten Bildern. Das heißt, auf welche Bilder beschränkt man sich. Es gab auch gestern da sehr, sehr unterschiedliche Vorgehensweisen. Und was wichtig ist, dass hier Medien tatsächlich ihrer Verantwortung gerecht werden.
    Meyer: Wird jetzt die Angst vor Ausländern, vor Flüchtlingen wachsen?
    Weber: Ich fürchte es. Ich befürchte es, weil wie gesagt, diese Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit lösen genau oftmals das andere aus. Das heißt, bevor ich die Kontrolle verliere, versuche ich, durch irgendwas die Kontrolle zurückzubekommen, und das kann auch tatsächlich durch sehr machtvolle Sprüche sein, die nicht mehr sehr differenzieren, sondern wo tatsächlich - verzeihen Sie mir bitte die Ausdrucksweise - die Sau durchs Dorf getrieben wird.
    "Die Wirklichkeit ist differenzierter als das, was in Twitter-Nachrichten verbreitet wird"
    Meyer: Was muss denn, jetzt mal aus psychologischer Sicht, von der Politik kommen, um die Verunsicherung in Deutschland einzudämmen oder, sagen wir es mal positiv, dass die Deutschen sich wieder sicherer fühlen können in ihrem Land?
    Weber: Das ist sehr komplex. Wie gesagt, da sind sehr, sehr viele politische Entscheidungen notwendig. Wichtig ist aber auch erst mal eine Grundhaltung. Das heißt, vor allen Dingen sollten solche Anschläge nicht dazu genutzt werden, Politik zu betreiben beziehungsweise Hetze zu betreiben beziehungsweise womöglich bestimmte Parteien oder andere Bereiche auf die Anklagebank zu setzen. Die Wirklichkeit ist wesentlich differenzierter als das, was meistens in Twitter-Nachrichten oder Ähnliches verbreitet wird.
    Meyer: Thomas Weber war das, Psychologe und Leiter des Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagement in Köln. Das Interview habe ich vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.