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Nach dem Krieg in Tschetschenien
"Ich versuche, an etwas Schönes zu denken"

15 Jahre lang herrschte Krieg in Tschetschenien. Moskau verhinderte mit Waffengewalt die Loslösung der Kaukasusrepublik. Fast alle Russen sind von dort geflohen, auch Polina Scherebzowa. Ihr Tagebuch hat sie bekannt gemacht, seitdem lebt sie aber auch gefährlich.

Von Sabine Adler | 26.06.2015
    Grosny
    Russische Soldaten am 5.2.2000 im Zentrum der zerstörten tschetschenischen Hauptstadt Grosny. (picture alliance / dpa / Foto: epa)
    Als Polina Scherebzowa neun Jahre alt war, begann in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny der Krieg, sie schrieb sich in ihrem Tagebuch ihre Ängste von der Seele, denn als ein russisches Mädchen war sie Freiwild für die tschetschenischen Mitschüler und Lehrer. Die Mutter alles andere als eine Stütze, wie Polina ihrem Tagebuch anvertraute.
    "Ich bin den ganzen Tag zu Hause. Mein Herz brennt innen, wenn ich mich abrupt bewege, tut es furchtbar weh. Mama tobt, dass ich nichts im Haus tun kann, heute hat sie mich wegen einer Teekanne angebrüllt, sie ist ausgelaufen. Mama hat mich geschlagen. Mir nichts, dir nichts zog sie ihr längstes Kleid an, das größte Kopftuch und ging. Ohne Papiere. Den Tod zu suchen. Ich hoffe, es geht glimpflich ab und sie kommt zurück. Sie wünscht mir den Tod, ihr gehen endgültig die Nerven durch."
    Polina hörte Musik des Tschetschenen Timur Muzurajew, las sich durch die Riesen-Bibliothek des Großvaters, der ein bekannter Dokumentarfilmer war, und durch sämtliche Schulbücher.
    "Mir fehlte die Schule. Ich war in insgesamt fünf Schulen und jede wurde bombardiert und in eine Ruine verwandelt. Aber ich wollte lernen, was wissen. Wenn ich wegen der Kämpfe nicht in die Schule konnte, saß ich im Treppenhaus, dort war es noch am sichersten, und dort schrieb ich Klassenarbeiten und Tests. Ich dachte mir die Fragen selbst aus."
    Manchmal übte die Mutter mit ihr Diktate, doch meist standen beide als Verkäuferinnen auf dem Markt, der immer wieder Ziel russischer Kampfflugzeuge war. Als nach einem Bombenangriff unzählige Metallsplitter in ihrem Körper stecken, schleppte sich das Kind allein in die Klinik. Die Mutter fiel einmal mehr aus.
    "Unsere Beziehung war immer so, dass ich die Mutter war und sie das Kind. Ich musste mich immer um sie kümmern, ihr helfen, sie versorgen, egal wie kapriziös oder hysterisch oder aggressiv sie sich gerade gab."
    Das Mädchen aus der russischen Intelligenzija-Familie war alles andere als eine scheue Büchermaus, im ganzen Wohnblock kannte man Polinas einzigartige Fähigkeiten in den brenzligsten Situationen.
    "Ich lenkte sie ab, alberte rum, redete"
    "Ich habe schon als Kind helfen können, weil ich, seitdem ich zehn war, Bücher über Hypnose und Psychologie gelesen habe. Und dort fand ich, wie man jemanden mit ganz einfachen Mitteln von seiner Angst ablenken kann. Wenn unser Haus bombardiert wurde, weinten und schrien Kinder und Erwachsene. Unser Haus stürzte ein, alle saßen bei uns im Erdgeschoss und ich lenkte sie ab, alberte rum, redete von was völlig anderem, brachte sie auf neue Gedanken. Das half, aber es war natürlich alles andere als eine professionelle Hilfe."
    Polinas Vater war zwar Tschetschene, doch die Eltern lebten getrennt, so war sie für alle "das russische Schwein", wie sie schreibt. Sie lernt sich zu wehren, zu prügeln, schätzte sich glücklich, wenn jemand für sie Partei ergriff und half allen und jedem, der schwächer war als sie.
    "Indem ich anderen half, rettete ich mich selbst. Auch mit dem Tagebuchschreiben. Denn ich hatte doch selbst riesige Angst. Ich habe Leuten die Atemübungen gezeigt, sie haben sie nachgemacht und sich dadurch beruhigt."
    Als ihre Tagebücher in Russland erschienen, sie von russischer und tschetschenischer Seite Morddrohungen erhielt, floh sie. Dass sie sich notfalls verteidigen kann, weiß sie seit Schulzeiten.
    "Schützen muss man sich überall und immerzu. Die Europäer müssen das lernen. Wenn zum Beispiel Leute wie unsere aus Tschetschenien kommen, die ihre zwölfjährigen Töchter verheiraten. Diese Mädchen haben dann mit 20 fünf Kinder. Sie schlagen ihre Kinder, der Mann seine Frau. Wenn man ihnen sagt, dass diese Gewalt nicht geht, fragen sie: Wieso, das ist doch unsere Kultur."
    Heute lebt die mittlerweile 30-jährige in Finnland. Aus Sicherheitsgründen sagt sie nicht, wo, auch nicht, was sie studiert, nur, dass sie den jetzt mittlerweile dritten Abschluss anstrebt. Beim Interview per Skype erzählt sie offen von ihrem Kinderwunsch, den Schmerzen.
    "Wenn ich Bilder aus der Ukraine sehe, kriege ich keine Luft"
    "Meine Beine tun vor allem im Herbst und Frühjahr furchtbar weh. Dort, wo die Granatsplitter saßen. Wenn ich Bilder aus der Ukraine sehe, wie Kinder dort leiden, ihre Eltern verlieren, kriege ich keine Luft, mein Herz rast. Ich kann es nicht ansehen. Ich bekomme Schmerzen, die Erinnerungen sind wieder da, alles was wir erlebt haben."
    Die Mutter hat ihrer Tochter vor dem Krieg, schon als Kindergartenkind Yoga-Übungen beigebracht, wofür man in der Sowjetunion politischen Ärger bekommen konnte.
    "Ich versuche, an etwas Schönes zu denken, mache Yoga und spezielle Atemübungen. Ich fühle mich sehr viel älter als 30, was an dem Hunger liegt, den ich als Kind leiden musste. Damals sind mir Zähne ausgefallen, weil wir tagelang nur getauten Schnee oder angerührtes verschimmeltes Mehl getrunken haben. Dazu diese Todesängste, dieser Stress."
    Polina studierte Psychologie, um zu verstehen, warum sie als Kind mitunter besonnener als die Erwachsenen reagieren konnte. Sie schreibt an ihrem vierten Buch. Sie achtet sorgfältig auf ihre innere Balance, hört Wagner, weiß, welcher Sprengstoff in ihren Kriegserlebnissen steckt.