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Nach dem Wahlsieg Viktor Orbáns
"Ungarns Kunst ist immer noch farbig und blüht"

Während andere Künstler aus Protest gegen Viktor Orbáns Politik nicht mehr in Ungarn auftreten, kehrt der Dirigent Iván Fischer seiner Heimat nicht den Rücken. Er fühle sich verantwortlich für die Musiker seines Orchesters, sagte Fischer im Dlf. Außerdem gebe es in Ungarn ein wunderbares Publikum.

Iván Fischer im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 09.04.2018
    Der ungarische Dirigent Ivan Fischer
    Der ungarische Dirigent Ivan Fischer (dpa / picture alliance / Bernd Thissen)
    Maja Ellmenreich: In Ungarn gab der alte-neue Ministerpräsident Viktor Orbán in der Nacht seinen Wahlsieg bekannt – und zwar mit deutlich martialischer Rhetorik:
    O-Ton Viktor Orbán: "Wir haben eine große Schlacht hinter uns. Wir haben einen schicksalhaften Sieg erreicht. Wir haben eine Möglichkeit erhalten, eine Möglichkeit, um Ungarn zu verteidigen. Wir, unsere Heimat Ungarn, hat noch nicht erreicht, was wir uns wünschen. Aber wir sind auf unserem gewählten Weg. Wir werden gemeinsam auf diesem Weg weitergehen. Ich bin für alles dankbar!"
    Ellmenreich: So die Worte von Viktor Orbán in dieser Nacht. – 49 Prozent der Wählerstimmen für die Fidesz-Partei, sie bescheren Orbán eine weitere Amtszeit an der Spitze Ungarns. Unser Gesprächspartner dazu ist der Dirigent Iván Fischer: Chefdirigent des Konzerthausorchesters in Berlin ist er, Gründer und bis heute Musikdirektor des Budapest Festival Orchestra, mit dem er unter anderem zahlreiche Konzerte gegen das Vergessen gegeben hat - etwa in verlassenen Synagogen in Ungarn. Herr Fischer, wir haben gerade Viktor Orbán im Originalton gehört, wie er innerhalb weniger Sätze von Schlacht und Sieg, Heimat und Verteidigung gesprochen hat. Ist das die Stimme, die Sprache Ungarns im Jahr 2018?
    Iván Fischer: Ich weiß gar nicht mehr, was Ungarn ist. Es erscheint mir als zwei ganz verschiedene Länder. Ein Teil davon, wahrscheinlich in kleineren Dörfern, ist eine Bevölkerung, die vielleicht nur einen Fernsehkanal mit staatlicher Kontrolle sehen können, und da hören sie die ganze Zeit, dass "die Flüchtlinge kommen und die Regierung beschützt euch" und "bitte gebt uns eure Wahl, weil dann können wir euch weiter schützen." Leute, die ich kenne, die vor allem in Budapest wohnen, die glauben das gar nicht. Die wissen nicht, ob das überhaupt noch Realität ist. Die meisten Stimmen, die kamen aus diesen kleinen Dörfern. - Flüchtlinge gibt es nicht oder kaum. Die Leute in den kleinen Dörfern, die vor Flüchtlingen Angst haben, die haben noch nie einen gesehen.
    Ellmenreich: Aber es wird ihnen Angst davor gemacht und offensichtlich geht das Konzept von Viktor Orbán ja auf.
    Fischer: Das stimmt. Das Problem ist, dass die Leute eigentlich Ungarn verlassen. Sehr viele Junge, die in England, in Deutschland, überall in Europa Arbeit suchen. Und vor allem in diesen Dörfern, wo so viel Popularität der jetzigen Regierung ist, gehen die jungen Leute weg.
    Ellmenreich: Was bedeutet solch eine massive Auswanderung für das Land Ungarn? Man kann da ja von einem Aderlass regelrecht sprechen. Man nennt das ja in manchen Fällen auch Brain Drain, die Abwanderung von geistiger Potenz, womöglich von Künstlern, von Kulturschaffenden, die große Ideen haben, aber die ganz woanders verwirklichen und nicht in ihrer Heimat.
    Fischer: Ja, das Tragische ist, dass es eine große, wunderbare intellektuelle Qualität in Ungarn gibt, hervorragende Theater, Schriftsteller, Poeten, Musiker, sehr viel talentierte Leute. Viele gehen natürlich weg. Andere können wegen der Sprache nicht so leicht weggehen. Ein Schauspieler, ein junger Schauspieler, was kann er mit der ungarischen Sprache hier tun? Viele Leute bleiben doch und die Kunst ist immer noch farbig und blüht.
    Viele Künstler in der Opposition
    Ellmenreich: Die Kunst ist farbig und blüht, sagen Sie. Und die Künstler und Kulturschaffenden, die in Ungarn weiterhin leben und wirken, gibt es für die noch künstlerische Freiräume, die nicht von Regierungsseite besetzt sind?
    Fischer: Ich glaube schon. Ja, es gibt eine große Kunstszene von wunderbaren Künstlern. Die sind eher in der Opposition.
    Ellmenreich: Einige Ihrer ungarischen Musikerkollegen treten aus Protest aber nicht mehr in Ungarn auf. Sie haben einen anderen Weg gewählt und konzertieren und engagieren sich auch weiterhin. Wieso kehren Sie Ungarn nicht den Rücken?
    Fischer: Weil ich mich verantwortlich fühle für mein Orchester. Ich habe ein wunderbares Orchester dort und die Leute kann ich nicht im Stich lassen. Außerdem gibt es ein wunderbares Publikum. Es gibt zehntausende Leute, die unsere Konzerte besuchen, und für diese Leute bedeuten diese Konzerte unglaublich viel. Das sind eigentlich fast die wichtigsten Abende, die diese Leute erleben.
    Ellmenreich: Ist es womöglich leichter, mit abstrakter Musik noch aufzutreten in Ungarn als mit Literatur und mit Schauspiel, wo doch viel schneller eine politische Botschaft dahinter steckt?
    Fischer: Das kann ich nicht so schwarz-weiß sagen. Es gibt sehr gutes Theater in Ungarn. Zeitschriften sind weniger. Da ist schon ein Problem, dass die natürlich weniger unterstützt, weniger subventioniert werden. Schriftsteller haben Probleme damit zu finden, wo die Bücher herausgegeben werden. Musiker zu sein, ist vielleicht noch einfacher, weil das eine internationale und etwas unpolitischere Sprache hat.
    Ellmenreich: Soweit der Dirigent Iván Fischer heute, am Tag nach der Wahl in Ungarn und dem erneuten Sieg von Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei. Herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.