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Nach der Ostalgie

Nach einer Flut von DDR-Erinnerungsbüchern und den so genannten Ostalgieshows, die in den letzten Jahren über die Mattscheiben liefen, scheint es fürs erste wieder einmal vorbei zu sein mit dieser Welle. Für Peter Richter ist das aber kein Grund, jetzt etwa ebenfalls schleunigst

von Uwe Pralle | 23.04.2004
    seiner Ost-Vita und -Perspektive abzuschwören - zumal sich der Einunddreißigjährige, der aus Dresden stammt und unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Kolumne schreibt, in den Rollenspielen der Medien auch weiterhin oft ins Fach des Ostexperten
    gedrängt sieht.

    Das merke ich schon, dass sehr häufig, wenn irgendwas mit dem Osten zu tun hat, ich auch immer sofort angesprochen werde darauf, so wie Frauen auch sehr häufig auf Frauenthemen abonniert werden, was es einerseits für mich ganz lukrativ macht, weil mir dadurch die Arbeit nicht ausgeht, andererseits ich mich genau so wenig, wie eine Frau nur auf Frauenthemen beschränkt sein müsste, dadurch ja nicht beschränke auf den Ostler. Also ich behalte mir vor, immer auch Geschichten über den Westen schreiben zu dürfen oder die sonst wo in der Welt spielen. In meinem Selbstverständnis bin ich natürlich kein Ostexperte, ich bin bloß - im Gegensätze zu vielen andern - jemand, der sich dafür noch interessiert.

    Das Buch, in dem Peter Richter sich nach wie vor für den Osten interessiert, ohne den Westen deshalb aber keines Blickes zu würdigen, heißt "Blühende Landschaften", und auf diese wahrscheinlich am häufigsten zitierte Vision des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl von der deutschen Vereinigung nicht nur zynisch zurückzukommen, beschreibt die Gratwanderung von Peter Richters Buch am besten.

    Ich verwende es nicht ausschließlich zynisch, diesen Begriff, sondern es ist gar nicht so einfach, einen Begriff zu finden, der Deutschland in den 90er Jahren oder seit der Wiedervereinigung auf einen Begriff bringt. Weil ich mir in diesem Buch vorgenommen hatte, über die Gegenwart des
    wiedervereinigten Deutschland zu schreiben, und zwar über beide Teile, auch explizit über den Westen, war es nicht einfach, das auf einen Begriff zu bringen - und in beiden Fällen ist mir schlichtweg nichts besseres eingefallen. Es ist so, dass das Wort, das Helmut Kohl damals, glaube ich, mit bestem Wissen und Gewissen gesagt hat zur Wiedervereinigung, dass das ein Versprechen war für Ostdeutschland, was implizierte, dass es diese blühenden Landschaften im Westen ja irgendwie schon gebe. Also die Angleichung der Lebensverhältnisse, von der ja auch häufig die Rede ist, heißt ja, dass der Osten auf ein Niveau kommt, wie es im Westen ist. Mittlerweile muss man aber sehen, dass der Westen teilweise auf ein Niveau absackt, wie es im Osten ist. Und diese ganze Gemengelage glaubte ich am ehesten in diesem Wort von den blühenden Landschaften drin zu haben.


    Was Peter Richter hier eine "Gemengelage" nennt, ist in seinem mit fröhlichem Feuilletonismus querfeldein durch die ostwestdeutschen Landschaften seit den 90er Jahren stürmenden Buch tatsächlich ein ziemlich diffuses Beobachtungsfeld. Einerseits schildert er, wie nach der Vereinigung der Westen in den Osten einzog und ihn umgekrempelt hat.

    Der Osten ist definitiv der modernere Teil Deutschlands, was die Infrastruktur betrifft, und er ist sicherlich auch der amerikanischere, nachdem - glaube ich - für ganz viele Westdeutsche - so habe ich mir das sagen lassen - die erste Entdeckung des Ostens wie eine Reise in ihre Kindheit war, wie in so ein Adenauer-Deutschland. Wo die Dörfer noch so ganz alteuropäisch vor sich hinlagen, hat sich in den letzten fünfzehn Jahren in einem massiven Entwicklungsschub, der nicht jedem sehr gut gefällt natürlich, eine Entwicklung abgespielt, die den Osten irgendwie vergleichbar macht mit Clichébildern, die man von Amerika hat. Es ist ja auch kein Wunder, dass fast jeder Film, der in Ostdeutschland spielt, immer ein "Roadmovie" ist mit gebrochenen Gestalten, das hat schon so was Texanisches.

    Im selben Atemzug allerdings entwirft er wiederum ein Bild vom Osten, das ihn nach dem so genannten Aufbau Ost der 90er Jahre als riesige Modernisierungswüste zeigt und das Zitat von den "Blühenden Landschaften" doch wieder höchst zynisch erscheinen läßt - und das um so mehr, als Richter darin schon Vorläufer von künftigen Problemen auch im Westen sieht:

    Eines der größten Probleme, was momentan auf Deutschland zukommt und in Ostdeutschland schon da ist, Schrumpfung, Überalterung, Abwanderung. Das Sterben einer Kulturlandschaft, das Sterben auch einer Utopie. Ich habe neulich in einer Architekturzeitschrift gelesen, dass irgendein Chef der Sächsischen Aufbaubank ganz ernsthaft die Frage stellt, vom Ökonomischen her, ob man sich eine Stadt wie Görlitz, östlichste Stadt Deutschlands, überhaupt noch leisten kann oder ob man nicht die Abwanderung forcieren muss, weil es so ökonomisch nicht weitergeht. Sanierte Städte, die komplett leer stehen, wo auch keine Entwicklungsperspektiven mehr sind. Wo das Leben künstlich, und zwar vom Westen finanziert oder von der EU finanziert, am Leben erhalten wird. Das sind so die Probleme, die eigentlich haarsträubend sind, die aber trotzdem nicht so richtig wahrgenommen werden. Sie sind nicht sexy. Der Osten ist für viele so sexy wie der Bart von Wolfgang Thierse und ist kein Thema, hat kein Glamour. Deswegen in meinen Buch auch diese Tonlage, die das Ganze versucht, mit einer gewissen Aggressivität zurück ins Bewusstsein zu
    prügeln auch.


    Auf der ethnologischen Forschungsreise, die Richter in seinem Buch umgekehrt in den Westen unternimmt, ist er der eigenen Lebensbahn gefolgt, die ihn Mitte der 90er Jahre von Dresden nach Hamburg führte und einige Jahre später von dort weiter nach Berlin - und auch dort ist er auf Befunde gestoßen, die nicht weniger widersprüchlich sind als die über den Osten. So ist er in Hamburg und anderswo einerseits auf die gediegenen und peinlich sauberen Wohlstandswelten der bundesdeutschen Ära gestoßen, ein "Lotophagenland", wie es einmal heißt, wo alles so
    bedrückend sei "wie in den Waschmittelreklamen des Vorabendprogramms" und der Westen geradezu das Clichébild seiner selbst. "Wie die Modelleisenbahnplatte von Helmut Kohl" sei ihm Westdeutschland vorgekommen, wie es einmal heißt. Andererseits hat er aber auch dort nicht nur eine hübsche Wohlstandsidylle entdeckt, sondern auch allerlei Grauzonen, die er für Vorposten einer "Verostlichung" des Westens hält.

    Man muss sich bloß mal angucken die Zonenrandgebiete im Westen, Braunlage im Harz, und dann geht man mal rüber nach Wernigerode, da fragt man sich nämlich, wo der Wohlstand größer ist oder wo der Westen und wo der Osten ist, da ist wie eine Sonne der Förderregen von Westen nach Osten gewandert und hinterlässt im Westen natürlich Trostlosigkeiten. Wenn das mit solchen Zynismen mal aufbricht, ist das natürlich unangenehm zu hören, es klingt hässlich, aber wir kommen der Wahrheit in diesem Lande ein bisschen näher dadurch natürlich.

    Kann man der Wahrheit über die Gegenwart des vereinigten Deutschlands in Peter Richters ebenso widersprüchlichen wie feuilletonistischen Stimmungsbildern tatsächlich ein bisschen näher kommen? Nun, "der" Wahrheit mit Sicherheit nicht, denn die eine Wahrheit gibt es nicht, und zwar weder über den Osten noch den Westen, und über beide zusammen schon gar nicht. Ein bisschen näher lässt sich in seinem Buch aber sehr wohl den Spurenelementen von Realitäten kommen, die nach wie vor in den wechselseitigen Projektionen vom Osten und Westen verborgen sind. Tatsächlich gibt Peter Richters Buch in erster Linie Eindrücke von Reisen durch die "Blühenden Landschaften" solcher Projektionen, die es nach anderthalb Jahrzehnten von ultivierungsversuchen dieser Landschaften immer noch reichlich gibt - und letztlich macht Richter keinerlei Hehl daraus, sich in seinem Buch zuallererst mit den eigenen Projektionen beschäftigt zu haben.

    Eigentlich ist es ein - sagen wir mal - radikaler Subjektivismus, den ich da anwende, das heißt: ich habe das ja geschrieben jetzt im Jahre 2003, im Herbst, das heißt, ich musste da auch natürlich rekonstruieren dieses erste Erstaunen, dieses erste Erschrecken über Dinge, die mir heute natürlich auch völlig geläufig sind, weil die Zeit ist ja auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen, das heißt, wie man in den Westen kommt, wie man sich wundert über diese extreme Sauberkeit, wie man sich wundert, weshalb die Westdeutschen den Osten stereotyp so als grau empfinden. Heute weiß ich, woran das liegt, aber damals waren das so richtige Friktionen, die man erlebt hat, und die versuche ich zu rekonstruieren. Deswegen, um auch die nötige Ungerechtigkeit rein zu bringen, so subjektiv das Ganze zu machen, deswegen gehe ich von eigenen Erlebnissen aus, die ich dann schildere, modellhafte Situationen, wo man mit kulturellen Prägungen und Prätentionen auch sehr viel zusammenkommt. Das ist jetzt aber der Blick des Fremden auf den Westen, insofern tatsächlich eine ethnologische Variante wahrscheinlich.

    Wenn ich dann aber auf den Osten zurückblicke, ist es so, dass ich einerseits daher komme, mich andererseits aber doch wundern muss und eine größere Betroffenheit habe. Das Buch handelt von einer Wiederaneignung der Herkunft, und zwar nicht in einem positiven Sinne, sondern über eine Art Scham auch. Es nervt mich, dass der Osten sehr viele der Clichés über sich dann auch pünktlich immer wieder bestätigt, dass es nicht immer ganz falsch ist. Es nervt mich, dass ich den Leuten sagen muss, dass nicht alle im Osten so sind - so wie Ihr euch das denkt, dann macht man mit denen einen Ausflug ins Berliner Umland und fährt zielsicher in eine Meute Rechtsradikaler hinein. Es nervt mich, und dadurch dass es mich so nervt, merke ich natürlich, dass es mir was bedeutet.


    Genervt zu sein gehört eigentlich nicht gerade zum klassischen Berufsbild von Ethnologen. Doch wer sich entschließt, Peter Richter auf seinen Reisen zwischen Dresden, Hamburg und Berlin zu begleiten, wird bald entdecken, sich nicht so sehr in der Begleitung eines Ethnologen zu befinden, sondern in der eines Feuilletonisten - und zu deren Berufsbild gehört das Genervt-Sein zweifellos, jedenfalls solange es amüsant bleibt. Dass das in Peter Richters Buch nicht selten der Fall ist, ist nicht bestreiten, dass dem feuilletonistischen Unterhaltungswert auch immer ein Erkenntniswert entspricht, aber schon. Und so ganz scheint Peter Richter dem eigenen Feuilletonismus selbst nicht immer zu trauen. Denn sonst würde er wohl kaum versuchen, mit seiner Tonlage zuweilen den bekannten Vorwurf gegen Feuilletonisten zu widerlegen, sie würden nur Locken auf Glatzen drehen.

    Bei der Tonlage ist es glaube ich schon erstens Mal von den Erzähltechniken ganz bewusst so ein Schwanken zwischen essayistischen Stellen und dann Erlebnis, Erinnerung und dann große wütende innere Monologe - was ich versucht habe, ist eine Art - sagen wir mal - hoologanistisches Schreiben auch zu machen, das heißt, die Vorwürfe, mit denen man konfrontiert wird, aufzunehmen und sich als Projektionsfläche darzubieten und zurückzubrüllen, um einfach die Lautstärke ein bisschen hochzufahren, was glaube ich dann aber auch die Dinge erkennbarer macht.

    Peter Richter
    Blühende Landschaften
    Goldmann, 272 S., EUR 17,90