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Nach der Parlamentswahl
Zerfällt Belgien in zwei Staaten?

Nach der Parlamentswahl in Belgien wird die Frage laut: Stößt der Föderalismus an seine Grenzen? Separatistische Kräfte nutzen die vertrackten Koalitionsverhandlungen, um eine Staatsreform wieder ins Spiel zu bringen: Sie wollen eine Konföderation zweier belgischer Staaten.

Von Christoph Schäfer | 17.06.2019
Eine belgische Flagge liegt am Boden inmitten von Wasser.
Im Abwärtsstrudel: Belgien ist hoch verschuldet, die Regierung kaum handlungsfähig - das nutzen die Separatisten aus (imago / Jasper Jacobs)
Auch wenn die Wahl in Belgien erst drei Wochen zurückliegt, eine neue Regierung wird dringend gesucht. Der Staat ist hoch verschuldet, die derzeitige Übergangsregierung hat keine Mehrheit im Parlament und ist kaum handlungsfähig. Die Lage ist angespannt und Journalisten deuten bereits beiläufige Sätze von Politikern als Zeichen für bisher unmöglich gehaltene Regierungskonstellationen - wie zwischen den Sozialisten und den separatistischen Nationalkonservativen.
"Wir hoffen, dass wir auf andere Weise eine Mehrheit finden können", sagte Elio Di Rupo, Parteichef der belgischen Sozialisten im Interview mit RTBF. Erst wenn die N-VA von ihrer Forderung nach einer Staatsreform ablasse, seien laut Di Rupo Gespräche möglich. Aber dieses Szenario könne sich nur in einem anderen Universum abspielen. Also gar nicht.
Dennoch wurde die Aussage Ende vergangener Woche in vielen Medien so gedeutet: Die sozialistische Partei PS öffnet sich gegenüber der separatistischen N-VA aus Flandern. Die Klarstellung folgte paar Stunden später von der Nummer Zwei der PS, Paul Magnette: "Entweder ist die N-VA in der Regierung oder die PS."
Die N-VA will eine Staatsreform: Sie will den Regionen, dem frankophonen Wallonien und dem niederländischsprachigen Flandern mehr Kompetenzen übertragen. Beide müssten dann im Rahmen der landesweiten Regierung nur auf bestimmten Politikfeldern kooperieren. Es würden zwei Staaten in einem existieren sozusagen. Die N-VA nennt das Konföderalismus.
Flamen wählten rechts - Wallonen links
Der scheint angesichts des Wahlergebnisses eine logische Konsequenz zu sein: "In Flandern ist es eher die extreme Rechte, die Stimmen bekommen hat - in der Wallonie, in Brüssel ist es eher die extreme Linke."
Analysiert der Politologe Dave Sinardet von der Vrije Universiteit in Brüssel das Wahlergebnis. Ihm zufolge wählen die Landesteile allerdings traditionell konträr zueinander. Zudem werden Farbspiele für die Regierung dadurch verkompliziert, dass erstens manche Partei nach Wahlverlusten unbedingt in die Opposition wollen. Zweitens wäre eine Koalition aus Sozialisten, Liberalen und Grünen zwar knapp mehrheitsfähig, aber in einer solchen Regierung hätten die flämischen Parteien gegenüber ihren wallonischen Pendants weniger Sitze. Und Parität wird in Belgien großgeschrieben.
Neuwahlen keine Option
Und Neuwahlen? Dave Sinardet hat dazu eine klare Meinung: "Ich glaube, das wäre eine unsinnige und dumme Entscheidung. Das würde die Entscheidung der Wähler auch gar nicht respektieren. Jetzt kommt es auf die Politiker an. Sie müssen mit den Karten spielen, die die Wähler gelegt haben." Für die N-VA ist der Konföderalismus noch längst nicht vom Tisch - schließlich ist sie jetzt, nach der Wahl, stärkste Partei. Praktikabel ist eine solche Staatsreform aber ganz sicher nicht, findet Christian Behrendt, Europarechtler von der Katholischen Universität Löwen:
"Es gibt da im Prinzip auch keine rechtlich verbindlichen Regelungen. Das müsste verhandelt werden, das würde wahrscheinlich Monate oder Jahre dauern."
Staatsreform würde Jahre dauern
Das Land müsste weiter verwaltet werden, während die Regionen verhandeln: Wie werden die Staatsschulden geteilt? Was wird aus der eigenständigen Region Brüssel?
"Man kann sowas andenken, aber man muss sich natürlich fragen, inwieweit das eigentlich machbar ist, wenn ich zum Beispiel an die Sozialversicherungssysteme denke", so Europarechtler Behrendt. Etwa eine eigene flämische Krankenversicherung.
"Aber das wird sie nicht davor schützen, dass sie auch weiterhin jeden Patienten, der auch EU-Bürger ist, behandeln müssen."
Und der könne halt auch aus der Wallonie kommen. Bei einer solchen Staatreform handelt es sich um eine komplexe Gemengelage. Und so stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich einfacher umzusetzen wäre als im aktuellen Föderalstaat eine Regierung zu finden.