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Nach der US-Wahl
Wie weiter mit Europa?

Die Europäische Union hat bereits mit vielen Krisenherden zu kämpfen: Flüchtlingskrise, Schuldenkrise, Terrorismus, Handelsstreit mit China, Eiszeit mit Russland. Nun muss sie sich mit einem amerikanischen Präsidenten auseinandersetzen, auf den sie so nicht vorbereitet war - und dessen Kurs völlig unklar ist. Das kann auch eine Chance sein.

Von Alois Berger | 10.11.2016
    Flaggen wehen vor dem Europaparlament in Straßburg
    Flaggen wehen vor dem Europaparlament in Straßburg (Bild: EP)
    Nach dem Brexit-Votum der Briten vor ein paar Monaten ist Donald Trumps Wahlsieg die zweite böse Überraschung für Europa. Und wieder ist die Europäische Union kalt erwischt worden. Hat eigentlich irgendwer in Brüssel oder in den europäischen Hauptstädten vorsorglich Kontakt aufgenommen mit diesem Trump oder seiner Umgebung? So wie es vor Wahlen üblich ist, damit man nachher nicht ganz ohne Telefonnummern da steht. Hat irgendjemand auszuloten versucht, was man vorsorglich tun könnte, um den Schaden für die transatlantischen Beziehungen möglichst klein zu halten? Kommissionschef Juncker, Ratspräsident Tusk, Außenbeauftragte Mogherini, Merkel, Hollande, Renzi, haben die sich wirklich alle wieder darauf verlassen, dass es schon gut gehen wird?
    Ein bisschen vermutlich schon. Sie haben auf die Favoritin Hillary Clinton gesetzt und irgendwie gehofft, dass die amerikanischen Wähler ihr Schicksal doch nicht in die Hände eines irrlichternden Milliardärs legen werden.
    Alle versichern, sie hätten es probiert, mit Trump Kontakt aufzunehmen
    Doch völlig unvorbereitet scheinen die europäischen Politiker dann doch nicht ins Schlamassel gerutscht zu sein. Die Vertretung der Europäischen Union in Washington, die deutsche Botschaft, einige Abgeordnete im Europaparlament, sie alle versichern, sie hätten es schon probiert, seien aber nicht weit gekommen. Das Problem sei vor allem, dass Trump seit Monaten eine One-Man-Show abgezogen habe: Der selbsternannte einsame Retter Donald Trump und seine ergebenen Helfer, die im Hintergrund blieben und ohnehin nichts zu sagen hatten. Keine politische Mannschaft, keine bekannten Unterstützer, keine Handynummern, die man hätte anrufen können. Selbst seine republikanischen Parteifreunde hatten ja kaum noch Kontakt zu dem wild um sich schlagenden Kandidaten gehabt. Mit den meisten hat er sich ja ohnehin überworfen.
    Deshalb rätseln sie nun in Brüssel fieberhaft, wofür der neue amerikanische Präsident nun im Einzelnen steht. Bei allen früheren Kandidaten, da gab es so etwas wie ein Schattenkabinett, einen möglichen Finanzminister, einen möglichen Außenminister, einen möglichen Innenminister. Da konnte man sich ein Programm zusammenreimen. Von Trump aber gibt es nichts - keinen programmatischen Vortrag vor irgendeiner Handelskammer, keinen dokumentierten Auftritt vor Studenten, nicht eine einzige zusammenhängende Rede. Selbst wenn er einmal etwas halbwegs Konkretes gesagt haben sollte, dann hat er eine Woche später das Gegenteil versprochen. So wollte er zum Beispiel die NATO mal auflösen, mal die Verbündeten zwingen, mehr in die NATO zu investieren. Schlagworte wie Mauer bauen, Grenzen dicht, hohe Zölle - das war's.
    Trump ist ein Pilot ohne Karte und ohne Kompass
    So wie es aussieht, wird Amerika sehr bald von einem einsamen Piloten ohne Karte und ohne Kompass navigiert. Von einem Piloten, der sich selbst nicht im Griff hat, geschweige denn eine Mannschaft oder irgendetwas, aus dem man Schlüsse ziehen könnte. Das einzige, was man sicher weiß: die USA werden auf lange Zeit vor allem mit sich selbst beschäftigt sein.
    Viel schlimmer hätte es für die ohnehin überforderte Europäische Union nicht kommen können. Zur Flüchtlingskrise, zur Schuldenkrise, zum Kampf gegen den Terrorismus, zum Handelsstreit mit China und zum erneuten kalten Krieg mit Russland kommt jetzt die Welt-Führungskrise dazu. Die Europäer werden, ob sie wollen oder nicht, international mehr Verantwortung übernehmen müssen. Auf Amerika sollten sie sich erst einmal nicht verlassen.
    Trumps Wahlsieg könnte auch eine Chance für den Zusammenhalt der EU sein
    Wenn man Trumps-Wahlsieg unbedingt etwas Positives abgewinnen will, dann höchstens, dass jetzt mindestens 27 EU-Länder ganz genau wissen, dass sie zusammenrücken müssen. Draußen könnte es stürmisch werden. Wenn nach dem Brexit einige Regierungen darüber nachgedacht haben sollten, ob sie ohne Europäische Union vielleicht besser dastünden, dann sind diese Gedankenspiele ganz sicher vorbei. Bei der neuen globalen Wetterlage steht niemand gern allein im Freien.