Samstag, 20. April 2024

Archiv

Nach Rechtsruck
Estnische Regierung in Dauerkrise

Estland galt lange als Musterknabe unter den östlichen EU-Ländern. Mit seiner digitalen Verwaltung und einer innovativen IT-Branche. Doch seit die nationalistische und EU-kritische Partei Ekre in die Regierung gewechselt ist, häufen sich die Negativschlagzeilen.

Von Florian Kellermann | 03.06.2019
Am 14 Mai 2019, vor der Europawahl, empfing Mart Helm, die Vorsitzende der französischen Rechtspopulisten vom "Rassemblement Nationale", Marine Le Pen in Tallinn.
Prominente Unterstützung für Innenminister Mart Helm: Frankreichs Rechtspopulistin Marine Le Pen vom "Rassemblement National" (imago-images/Tairo Lutter)
Schon die Vereidigung der neuen estnischen Regierung war von Skandalen überschattet. Medien berichteten über Vorwürfe gegen den neuen Handelsminister von der rechtsnationalen Partei Ekre. Er habe seine frühere Ehefrau terrorisiert. Ministerpräsident Jüri Ratas von der Zentrumspartei hielt zunächst dagegen:
"Er hat mir in die Augen gesehen und versichert, dass es in seiner Familie keine Gewalt gegeben habe. Dann habe ich bei der Polizei nachgefragt und erfahren, dass es nie eine Anzeige gab."
Trotzdem blieb der Minister nur zwei Tage im Amt.
Rassistische Parolen
Für den zweiten Skandal bei der Vereidigung sorgten die beiden wichtigsten Ekre-Politiker: Innenminister Mart Helme und sein Sohn, Finanzminister Martin Helme. Sie formten mit der Hand ein rassistisches Zeichen. Es steht für die angebliche Überlegenheit einer sogenannten "weißen Rasse". Beide Politiker hatten sich in den vergangenen Jahren wiederholt rassistisch geäußert. Eines habe Ekre damit erreicht, sagt der Tallinner Politologe Peeter Taim:
"Die Zentrumspartei, eigentlich der größte Koalitionspartner, geht unter. Es scheint, als gebe es in Estland nur noch zwei Politiker - Vater und Sohn Helme."
Aufsehen erregte die rechtsgerichtete Partei auch in der Außenpolitik. Vor der Europawahl empfing sie Marine Le Pen in Tallinn, die Vorsitzende der französischen Rechtspopulisten vom "Rassemblement Nationale". Und das obwohl die beiden eigentlich viel trenne, analysiert Tarmo Jüristo von der Tallinner Denkfabrik "Praxis":
"Ekre hat klar gemacht, dass sie natürlich weiterhin unterschiedlicher Meinung sind in Bezug auf Russland. Die Partei verurteilt die Annexion der Krim, anders als Le Pen. Aber schließlich hätten sie einen gemeinsamen Feind: die Idee einer stärker integrierten Europäischen Union."
Staatspräsidentin schaltet sich ein
Auch ihre Distanz zur liberalen Presselandschaft macht Ekre immer wieder deutlich. Martin Helme würde kritische Journalisten des öffentlichen Fernsehens gerne bestrafen. Sie sollten nicht mehr vor der Kamera erscheinen, schrieb er in einem Brief.
In diesem Punkt, wie in vielen anderen, stellte sich die estnische Präsidentin der neuen Regierungspartei entgegen. Kersti Kalljulaid trat mit einem T-Shirt mit der Aufschrift: "Das Wort ist frei" in der Öffentlichkeit auf:
"Ich stehe hier nur, in Schwarz und Weiß gekleidet, und erkläre: Wir haben Redefreiheit. Redefreiheit - dazu gehört, mutig aufzutreten und auch keine Selbstzensur zu üben. Gegenseitige Kritik ist unbedingt notwendig."
Die Zentrumspartei hat durch das Bündnis mit Ekre bereits deutlich an Zustimmung verloren. Bei den Europawahlen sank ihr Stimmenanteil um acht Prozentpunkte im Vergleich zur Parlamentswahl im März. Vor allem die russischsprachigen Wähler nehmen ihr die Koalition mit den Nationalisten übel.
Und die Probleme für die Regierung wachsen beständig. Im Staatshaushalt klaffen größere Lücken als bisher gedacht. Noch im vergangenen Jahr hatten alle estnischen Parteien versprochen, die Ausgaben für Bildung und Forschung zu erhöhen. Das ist nun gestrichen. Tarmo Jüristo:
"Das hat die Regierung erst kurz nach der Wahl bekannt gegeben. Sonst wäre das Ergebnis für die Zentristen wohl noch schlechter ausgefallen."
Estland spricht unterdessen schon über den nächsten Skandal: Die neue Handelsministerin von Ekre erklärte, sie werde im Ausland keinesfalls Englisch sprechen - und überhaupt wolle sie nicht viel reisen. Dazu der süffisante Kommentar von Präsidentin Kalljulaid: Je weniger Ekre-Minister mit Vertretern aus anderen Ländern kommunizierten, desto besser sei das für das Ansehen Estlands.