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Nachfahren kämpfen um Anerkennung
Was Amerika seinen Sklaven zu verdanken hat

Vor 400 Jahren kamen in Virginia die ersten Sklaven aus Afrika an, vor gut 150 Jahren wurde die Sklaverei in den USA abgeschafft. Die Nachfahren der Sklaven von damals fordern nun, dass Amerika die Lebensleistung ihrer Ahnen anerkennt.

Von Thilo Kößler | 28.08.2019
Ein Mann steht neben einer Gedenktafel in Fort Monroe, die an die Ankunft im Jahr 1619 des ersten Schiffes erinnert, das Sklaven nach Virginia brachte.
Hier soll laut einer Gedenktafel das Schiff gelandet sein, das die ersten Sklaven nach Fort Monroe in Virginia brachte (Deutschlandradio / Thilo Kößler)
Fort Monroe, Virginia, am vergangenen Wochenende: Auf der großen Wiese zwischen den prächtigen alten Häusern aus roten Klinkersteinen und der Kaimauer steht eine kleine Zeltstadt mit Informationsständen. Die Initiative #rememberthe400, die an den Beginn der Sklaverei in den USA vor genau 400 Jahren erinnert, hat Geschichte und Geschichten zusammengetragen über die Sklaverei, die Rassentrennung, die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die offene und versteckte Diskriminierung bis heute.
Drei weibliche Jugendliche tragen schwarze T-Shirts mit der Aufschrift #rememberthe400 in Fort Monroe. Damit erinnern sie an die Ankunft der ersten Sklaven in Virginia im Jahr 1619 - vor 400 Jahren also.
Jugendliche erinnern in Fort Monroe an die Ankunft der ersten Sklaven in Virginia (Deutschlandradio / Thilo Kößler)
Ganz am Ende wollen Jugendliche von den Besuchern wissen: Warum bist Du ein wertvoller Mensch? Deborah liest von der Pinwand ab:
"I'm more because I'm educated" - weil ich eine Ausbildung habe,
"because I seek knowledge" - weil ich immer mehr lernen möchte,
"because I'm the future" - weil ich die Zukunft bin.
Afroamerikaner fordern ihre historisches Erbe ein
Ein stärkender Blick nach vorn, an einem historischen Ort kollektiver Schuld. Hier, in Fort Monroe, das damals noch Point Comfort hieß, wurden 1619 die ersten Sklaven an amerikanische Siedler verkauft. Der Tabakpflanzer John Rolfe dokumentierte die Ankunft des ersten Schiffes, der White Lion, erzählt Terry E. Brown, der Leiter des staatlichen Fort Monroe Nationalmonuments. Rolfe hielt fest, dass einige 20 und mehr "Negroes", wie er schrieb, an Bord gewesen sind.
Terry E. Brown, der Leiter des Fort Monroe National Monument, steht vor einer Fahne
Terry E. Brown, Leiter des Fort Monroe National Monument (Deutschlandradio / Thilo Kößler)
Das ist das früheste Zeugnis für den Sklavenhandel in Nordamerika. Anfang des 18. Jahrhunderts war die Sklaverei bereits ein fest etabliertes Übel. Ende des 18. Jahrhundert waren allein in Virginia über 270.000 Afrikaner als Sklaven registriert – fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung. Für Terry E. Brown, der als erster Afroamerikaner Chef dieses Fort Monroe National Monument ist, ist dieser Tag bewegend, wie er sagt.
"Wir wissen, dass sie unter den furchtbarsten Bedingungen gelebt haben. Es ist bemerkenswert, dass sie jetzt ihr historisches Erbe einfordern. Die Afroamerikaner fingen am Nullpunkt an und überlebten nicht nur die Sklaverei, sondern sind heute eine dynamische Antwort auf die amerikanische Demokratie."
Am Stand der Familie Tucker ist immer was los. Freunde kommen, um sie zu begrüßen, Verwandte fallen sich um den Hals. Fremde suchen das Gespräch. Die Tuckers haben eine historische Gesellschaft gegründet, The William Tucker 1624 Society. Sie widmet sich einem einzigen Zweck: der Erforschung der Familiengeschichte. Die Tuckers dürften die einzige Familie in den USA sein, die ihre Ahnengeschichte bis zur Ankunft der ersten Sklaven aus Angola zurückverfolgen kann.
"Wir haben tatschlich herausgefunden, dass wir von William Tucker abstammen, dem Sohn von Antonio und Isabella, der hier 1624 als William Tucker geboren und getauft wurde. Wir sind so unglaublich froh, dass wir unsere Geschichte bis dahin zurückverfolgen können – und dass wir heute so viel über uns wissen."
Respekt für die Lebensleistung ihrer Vorfahren
Felicia Tucker ist 47 Jahre alt und promovierte Pädagogin. Die Geschichte ihrer Familie zu schreiben, bedeutet, die andere Geschichte Amerikas zu erzählen – die Geschichte der Schwarzen, die nicht freiwillig ins Land kamen wie die weißen Siedler und deren Schicksal nicht das Versprechen auf Freiheit war, sondern die Knechtschaft der Sklaverei.
"Wenn jemand so etwas erleben muss, dann ist das eine traumatische Erfahrung. Aber wir wollen nicht festhalten an den Leidensgeschichten, sondern wir wollen vermitteln, dass wir hier sind, weil sie überlebt haben – weil sie alles daran gesetzt haben, dieses Schicksal auszuhalten."
Vater William und Tochter Felicia Tucker in Fort Monroe im US-Bundesstaat Virginia. Im Hintergrund eine Personengruppe und dahinter das Meer.
Felicia Tucker und ihr Vater haben ihren Stammbaum bis zu William Tucker zurückverfolgt - der kam 1624 als Erster seiner Familie in Nordamerika zur Welt. (Deutschlandradio / Thilo Kößler)
Felicia Tucker spricht von dem großen Respekt, den sie für die Lebensleistung ihrer Vorfahren empfindet. Sie geht einen eigenen, anderen Weg. Ohne Betonung der Opfergeschichten. Ohne die geballte Faust der Black-Power-Bewegung. Felicia Tucker kämpft vor allem mit der persönlichen Geschichte ihrer Familie im Rücken um Anerkennung und Respekt für die afroamerikanischen US-Bürger: Sie hätten das Land genauso mit aufgebaut wie andere Kulturen, sagt sie.
Deshalb würde sie dem Präsidenten am liebsten persönlich sagen, dass es überhaupt nicht angeht, weiblichen Kongressabgeordneten – allesamt women of color – zuzurufen, sie sollten das Land verlassen und dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind. Sie seien Amerikaner wie die anderen Amerikaner auch. Mehr noch: Die Afroamerikaner seien Teil der Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
Viele Dokumente sind vernichtet
Felicia Tucker hat ihren Vater zu sich gerufen – ein freundlicher älterer Herr mit grauem Schnauzbart und Gehstock. Er sagt, dass das Schicksal der Familie Tucker das Schicksal von Millionen Afroamerikanern sei – mit einer Geschichte, die erst noch erzählt werden und in ein neues Narrativ münden müsse: die Erzählung von der Leistung der Schwarzen, die endlich von den Weißen anerkannt werden müsse. Er selbst habe sein Leben lang einen wertvollen Beitrag für sein Land geleistet:
"Ich wurde in einer Schule nur für Schwarze unterrichtet. Ich unterlag all den Beschränkungen, die mich daran hinderten, aus mir dasselbe zu machen wie weiße Kinder meines Alters. Ich bin 73 Jahre alt. Ich war 28½ Jahre Polizeioffizier in New York City. Und ich war in der Armee. Ich bin Veteran. Ich habe 20 Jahre in der amerikanischen Armee gedient. Und das ist der Punkt: Sie müssen endlich die Geschichte sehen und was wir diesem Land gegeben haben. Und dann müssen sie uns den gerechten Teil einer gerechten Chance zukommen lassen.
William Tucker, der Mann, der nach dem ersten Sklavenkind benannt ist, das mutmaßlich in den Vereinigten Staaten geboren und getauft wurde – William Tucker sagt, er werde bis ans Ende seiner Tage versuchen, Licht in die beispielhafte, 400-jährige Geschichte seiner Familie zu bringen. Viele Dokumente sind vernichtet, viele Erzählungen, die nur mündlich überliefert wurden, vergessen. William Tucker will dabei nicht nur die dunklen Seiten schildern und die traurigen Geschichten erzählen. Dafür seien das Land und die Welt zu schön, sagt er.