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Nachgehakt: Der Chemie-Skandal von Seveso

Vor 35 Jahre ereignete sich der Chemieunfall im italienischen Seveso. Aus einem undichten Kessel trat explosionsartig Dioxin aus. Stefania Sennos, damals ein kleines Mädchen, war von Pusteln übersäht. Sie gilt immer noch als das "Gesicht von Seveso".

Von Kirstin Hausen | 08.07.2011
    Am Sonntag vor 35 Jahre platzte in der Chemiefabrik Icmesa, einem Tochterunternehmen des Schweizerischen Chemie- und Pharmakonzerns Hoffmann-LaRoche, das Sicherheitsventil eines Kessels. Hochgiftiges Dioxin stieg auf und kein Arzt, kein Katastrophenschützer hatte bis dahin Erfahrungen, wie mit diesem Supergift umzugehen sei.

    "Die Wolke ist am Samstag ausgetreten, am Dienstag oder Mittwoch darauf bekam meine Schwester Alice die ersten Pusteln. Eine Woche später hatte auch ich diese Pusteln. In der Zwischenzeit waren bereits einige Tiere gestorben und es wurde klar, dass etwas schlimmes passiert war in der Gegend."

    Stefania Senno ist zwei Jahre alt und wird nach Mailand ins Krankenhaus gebracht. Spezialisten aus der ganzen Welt reisen an, um den Hautausschlag des Mädchens zu untersuchen. Monatelang bangen die Ärzte um Stefanias Leben, verordnen Salben, Kopfbandagen und wissen doch nicht, was das Dioxin genau anrichtet in dem kleinen Körper.

    "Warum musste das mir passieren? Das habe ich mich als Kind so oft gefragt. Du musst an Gott glauben wurde mir dann gesagt und ich dachte, dass mein Leid irgendeinen Sinn haben müsse. "

    Heute ist Stefania Senno 38 Jahre alt. Eine hübsche, junge Frau mit braunen Augen und blondem Haar, das ihr bis auf die Schulter fällt. Krank geworden ist sie durch das Dioxin nicht. Nur die Haut ihrer Wangen wirkt eigenartig porös. Auf den ersten Blick denkt man an eine schwere Jugendakne, bei genauerem Hinschauen verwundert die Gleichmäßigkeit der Narben.

    "Als Jugendliche habe ich mir morgens vor dem Aufstehen immer gesagt, es war nur ein Traum, ein böser Traum und daran habe ich wirklich geglaubt. Bis ich aufstand und in den Spiegel schaute. Wenn ich dann mein Gesicht sah, war ich völlig fertig."

    Vier Hauttransplantationen hat Stefania machen lassen, um die Vergangenheit aus ihrem Gesicht zu tilgen.

    "Beim letzten Mal habe ich im Operationsraum, kurz vor dem Wegdämmern zu mir selbst gesagt: Stefania, glaube mir, das ist die letzte. Du wirst nicht weiter leiden müssen."

    Auch der Ort Seveso hat versucht, die Spuren des Chemieunfalls zu beseitigen. Das ehemalige Sperrgebiet südöstlich des Fabrikgeländes ist heute ein Naherholungsgebiet mit Wiesen, Bäumen und Parkbänken.

    "Dort drüben stand die Fabrik, wo der Sportplatz beginnt. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich das sehe. Der Gemeinderat entschied sich nach der Demontage der Fabrik hier auf dem Gelände mit dem Entschädigungsgeldern von Hoffmann-LaRoche ein ganz normales Sportzentrum hinzusetzen."

    Max Fratter ist 41 Jahre alt, schlank, hat braunes Haar und dunkle lebhafte Augen. Er zeigt auf einen Hügel, der seltsam wirkt in der flachen Parklandschaft. Unter dem Gras verbergen sich zwei riesige Betonwannen mit der abgetragenen verseuchten Erde, der demontierten Fabrik und dem Schutt der Häuser aus der Sperrzone, die allesamt abgerissen wurden.

    Es waren dramatische Tage und Wochen, damals in Seveso. Lautsprecherwagen der Gesundheitsbehörde fuhren durch den Ort, den Einwohnern wurde empfohlen, bei Hautreizungen oder anderen Beschwerden die Erste-Hilfe-Station aufzusuchen. Der Toxikologe Paolo Mocarelli:

    "Als die Kaninchen starben, dachten wir, bald werden auch die Menschen sterben."

    Die Wirkung von Dioxin auf den Menschen hat sich als nicht so verheerend erwiesen wie damals befürchtet. So tun als wäre nichts passiert, kann man nach Meinung von Paolo Mocarelli jedoch nicht.
    "Dioxin hat eine Wirkung auf den Menschen, es stimmt nicht, dass es gar nichts anrichtet. Dioxin ist krebserregend und in der Tat: es hat einen Anstieg von Tumoren gegeben in Seveso. Ein Anstieg heißt: einige Tumore mehr als im Durchschnitt, keine hundert mehr."

    Das Dioxin vergiftete aber nicht nur den Boden, die Tiere und die Körper der Menschen, sondern auch die Gemeinschaft. Noch heute gibt es Nachbarn, Freunde, sogar Verwandte in Seveso, die kein Wort mehr miteinander wechseln, weil sie sich über die Verteilung der Entschädigungsgelder entzweit haben.