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Nachkriegszeit
Gesellschaftsdrama über Freundschaft

In Pierre Lemaîtres Roman "Wir sehen uns dort oben" fängt der Franzose das Grauen des Krieges ein und beschäftigt sich mit den Härten und Lügen der Nachkriegszeit.

Von Sigrid Brinkmann | 12.01.2015
    "Ich bin Romancier, kein Kriegsveteran. Man stellt mir aber oft Fragen wie einem Historiker, und ich muss dann ständig sagen: Ich schreibe Romane."
    Als Erfinder fiktiver Charaktere und ins Wundersame abdriftender Vorkommnisse war Pierre Lemaître weit davon entfernt, einen Roman zu schreiben, der das Grauen des Ersten Weltkriegs realistisch wiederzugeben versucht. Gleichwohl gibt es in seinem umfangreichen Epos Passagen, die man besser nicht des nachts liest. Der eigene Atem wird ganz flach, wenn die Gefäße eines Verschütteten bald platzen und seine Augen aus den Höhlen treten. Der Soldat erwartet das Versagen seiner Organe und wird doch in letzter Minute gerettet - von einem verletzten Kameraden, der in die Nähe des Bajonetts geschleudert wurde, das über dem lebendig Begrabenen aus der Erde ragt. Diese beiden Männer sind Lemaîtres Helden. Albert Maillard war vor dem Krieg Kassierer in einer Pariser Bank, Edouard Péricourt wollte Maler werden. Als preisgekrönter Krimi- und Drehbuchautor beherrscht Lemaître die Kunst, Spannung zu erzeugen. Abgeschaut hat er sich die Cliffhanger-Technik in der Literatur des 19. Jahrhunderts.
    "Ich bin ein Kind von Alexandre Dumas und Victor Hugo, dem Autor von 'Die Elenden'. Mich haben Feuilleton-Romane und die Abenteuerliteratur geprägt. Der Krimi ist der Abenteuerroman des 20. Jahrhunderts. Er erfüllt die gleiche soziale Funktion wie der Fortsetzungsroman im 19. Jahrhundert. Was ist denn bitteschön der Mehrwert von Romanen? Es kommt doch nicht auf exakte Beschreibungen an, sondern es geht um die Wahrheit. Romane sollen die Wirklichkeit beleuchten."
    Wie seine literarischen Vorbilder Dumas und Hugo versucht, der 63 Jahre alte Pierre Lemaître zu verstehen, worin die moralische Verkommenheit einer Epoche besteht. Voller Verve klagt er in "Wir sehen uns dort oben" den Ehrgeiz französischer Offiziere an, die noch im Oktober 1918 bei der Generalität mit Skrupellosigkeit punkten wollten und Soldaten ihre Truppe eiskalt opferten.
    "Es wurde in den ersten Nachkriegsjahren immerhin schnell damit begonnen, rangoberen Armeeangehörigen den Prozess zu machen und Soldaten zu rehabilitieren, die wegen Verrats hingerichtet worden waren."
    Die allwissende Erzählperspektive passt zur sarkastischen Abgeklärtheit, mit der Pierre Lemaître auf sein Romanpersonal schaut und ihr jeweiliges Milieu vorführt: Gehemmtes Kleinbürgertum trifft auf verarmtes Landjunkertum und die Hoffnungsträger einer gefühlsblinden Unternehmerdynastie. Lemaître hat einen Standpunkt.
    "Jeder ließ jeden hängen in diesem Krieg. Meine Helden bringen noch einen Rest Brüderlichkeit auf. Ich fand es irgendwie stimmig, dass diejenigen, die am ärmsten dran sind, am meisten geben; dass sie solidarischer sind, während die wirklich Reichen die schlimmsten Egoisten sind."
    Pierre Lemaîtres Gesellschaftsdrama singt das Loblied auf die Freundschaft zweier Männer, die keine bürgerliche Existenz mehr führen können. Edouard ist das, was man in Frankreich eine "gueule cassée" nennt.
    "Edouard sah sich den aufgedunsenen Brei lange an, in dem er, wie hinter einem Schleier, die verlorenen Züge des Gesichts wiedererkannte, das mal seines gewesen war. Die übereinandergeschobenen Fleischlappen formten große milchweiße Kissen. Mitten im Gesicht ein Krater."
    Mit ihrer zerstörten Gesichtern wagten sich viele Kriegsheimkehrer nicht mehr unter Menschen. Edoaurd genießt es, zu schocken.
    "Er lehnt eine Operation ab, weil er die Regierenden nicht so billig und mit einem guten Gewissen davon kommen lassen will. Er sagt: Mein Gesicht, das ist Eure Schande! Ich finde es richtig, dass ein Mensch, der vom Ausdruck lebt, der Gesellschaft zumutet, sein entstelltes Gesicht zu ertragen. Als Soldat hat er den Ersten Weltkrieg gewonnen, denn er wurde nicht getötet, als Mensch hat er ihn verloren. Albert und Edouard führen den Krieg auf der symbolischen Ebene weiter."
    Lemaîtres Helden rächen sich an der kollektiv trauernden Gesellschaft und ihren heuchelnden Repräsentanten, indem sie einen ungeheuerlichen Betrug mit dem Verkauf von Kriegsmonumenten planen.
    "Es bildete sich ein eigener Industriezweig nur für die Fertigung von Kriegsdenkmälern. Das ist nicht erfunden. Es gab Kataloge, in denen Denkmäler angeboten wurden: Eine Skulptur des zum Angriff bereiten Soldaten kostete 693 Francs. Wer die gleiche Ausführung mit einem gallischen Hahn dazu bestellte, musste 22 Francs mehr bezahlen. In jener Zeit ging das einfach jeden an. Den Betrug habe ich frei erfunden, aber ich verhehle nicht, dass ich beim Schreiben meine Freude daran hatte."
    Offen mokiert sich Pierre Lemaître über die pathosselige Gefühlsduselei von Amtspersonen, die dem Zynismus, mit dem auf den "Feldern der Ehre" Ordnung geschaffen wurde, nichts entgegen zu setzen wussten und zu stillhaltenden Mitwissern wurden.
    "Der Präfekt glaubte schon, der Bürgermeister würde gleich anfangen zu weinen. Das hätte gerade noch gefehlt."
    Ironische Randbemerkungen sind typisch für Lemaître. In bester aufklärerischer Manier legt er den Finger auf eine Reihe von Skandalen, die der Grande Nation ein erschreckendes Armutszeugnis ausstellen. Der Autor ist ein intelligenter Spötter, der mit seinem komisch-ernsten Roman eindrucksvoll vorführt, dass nach dem Ersten Weltkrieg niemand unbeschadet weiterleben konnte. Dass Pierre Lemaître, der sich in seinen Fiktionen meist in realistischer Manier an den Widrigkeiten der Gegenwart abarbeitet, seinen Roman in einer fantastischen, poetischen Szene gipfeln lässt, überrascht und überzeugt zugleich.
    Pierre Lemaître: "Wir sehen uns dort oben", Roman, aus dem Französischen von Antje Peter, 522 Seiten, 22,95 Euro, Klett-Cotta.