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Nachrichten aus der Berliner Republik

Der Geist steht links, die Macht rechts, und wer zur Macht will, muß Geist abgeben. So in etwa lautet die gängige Regel für Menschen mit etwas größeren Gehirnen. Damit sie nicht ganz so apodiktisch daherkommt, untermauert man sie mit einer glaubhaften Begründung: Intellektualität zeichnet sich durch Wendigkeit aus, durch permanente Skepsis und große Schwierigkeiten, einem als mangelhaft empfundenen Status quo zuzustimmen. Dies steht im diametralen Gegensatz zur Bewahrungsideologie konservativer Provenienz und erklärt, warum es dreimal so viele linksliberale wie großbürgerliche Intellektuelle gibt. Da rechts auch noch die Verlockungen von Macht und Wohlstand lauern, ist der Spagat zwischen grundsätzlicher Bejahung der Verhältnisse und Wahrung der eigenen Unabhängigkeit ein seltenes Kunststück.

Florian Felix Weyh | 12.03.2002
    Aber es gibt einen dritten Weg, und den schritt der 1999 verstorbenen Johannes Gross zeitlebens ab: einen als mangelhaft empfundenen Status quo von rechts zu kritisieren, ohne dabei die geistige Wendigkeit aufzugeben. Diese seltene Haltung fußt auf jener romantisch anmutenden Noblesse, wie sie der Pour-le-Merite-Träger Ernst Jünger als ritterlichen Konservatismus aus der Kaiserzeit ins Nachkriegsdeutschland hinübergerettet hat. Ohne die Norm strukturell offenzulegen, weiß man, was sich gehört und was nicht. "Bürgerlicher Anstand" lautet die Folie, vor deren Hintergrund politische und soziale Werturteile ausgesprochen werden. Das erklärt, warum der kluge Publizist Gross immer wieder zu unklugen Ausfällen gegenüber der im Kern höchst konservativen Ökologiebewegung neigte. Er konnte ihre ästhetische Verwahrlosung nicht ertragen, diese Bundeswehrparkagemeinde mit langen Haaren und dichten Bärten. Da spuckte der Snob in ihm Gift und Galle und lieferte der Tagespolitik zündende Aperçus als Wahlkampfmunition.

    Im letzten hinterlassenen Sudelbuch à la Lichtenberg - das freilich keine Nachlaßschriften enthält, sondern im verblichenen FAZ-Magazin von 1995 bis 99 publizierte Notizen -, ist der Tonfall milde, weltweise und resignativ geworden. Obschon nicht mehr so ahistorisch wie das Bonner Provisorium, scheint die "Berliner Republik" das Herz des Konservativen auch nicht mit Zuversicht zu erfüllen: Der Betrieb wurstelt weiter, und Gross notiert vor der sich abzeichnenden politischen Wende: "In jedem Wahlkampf plagt mich die Erinnerung an die athenische Demokratie, an die Zeit, als die öffentlichen Ämter durch das Los besetzt wurden. Da konnte es keine Berufspolitiker geben, die Machtgier des einzelnen hatte keine Chancen und die von Parteien keine große."

    Als der Kanzler dann Schröder statt Kohl heißt, und sich der Gesundheitszustand des chronisch nierenkranken Publizisten deutlich verschlechtert, machen lebenslang gehütete Idiosynkrasien den tagespolitischen Eintragungen Platz. "Schlimme Nachricht. Telefonieren wird noch billiger", heißt es im Frühjahr 1999, denn technische Kommunikationsmittel waren dem Puristen immer ein Graus. Politisch hatte er sich in der Überschätzung von Helmut Kohl und der Unterschätzung des restlichen CDU-Personals längst auf ein Abstellgleis manövriert - die Parteispendenaffäre mußte er nicht mehr miterleben. Auch wenn er Kohls zähes Festhalten an Amt und Würden frühzeitig als Fehler erkennt, läßt die Beißhemmung keine klaren Worte zu. Beim politischen Gegner sieht das naturgemäß anders aus. "Das Verhalten der SPD ist gut zu verstehen," notiert er im Mai 1996 mit scharfem Blick, "wenn erkannt wird, daß ihr tiefstes Sehnen nicht auf Macht geht, sondern auf Mitbestimmung. Die hat sie allenthalben erreicht und versteht die Zumutung nicht, daß sie noch mehr zu wollen habe."

    Zwei Jahre später sind diese Sätze Makulatur, erklären aber das beredete Schweigen nach Schröders Sieg. Johannes Gross begriff die neue SPD nicht mehr oder wollte sie nicht mehr begreifen, denn als bloß funktionale Partei ohne ideologischen Kern erschien sie ihm der Gegnerschaft nicht würdig. Der Wertkonservative konnte sich nur mit falschen Werten auseinandersetzen, nicht mit der gänzlichen Abwesenheit inhaltlicher Positionen. Je nach Standort wird sich fast jeder Leser über das eine oder andere der elegant geschriebenen Notate ärgern, und ein Nachfolger ähnlichen Formats ist nicht in Sicht. Vor allem keiner, bei dem sich zur analytischen Schärfe auch noch eine derart skurrile Originalität gesellt. So fällt dem Publizisten im September 1997 auf, daß in der CDU nur jemand Chancen habe, der Dialekt spreche, während sich die SPD nach reinem Hochdeutsch in der Führungsspitze sehne. Ade Angela Merkel, willkommen Edmund Stoiber! Über den Wahlausgang besagt das freilich nichts.