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"Nachrichtenrevolution in der arabischen Welt"

Der Medienwissenschaftler Oliver Hahn hat den Beginn des Fernsehsenders Al-Dschasira vor zehn Jahren als eine "journalistischen Revolution" im arabischen Raum bezeichnet. Al-Dschasira habe erstmals eine Alternative zum gelenkten Staatsfernsehen geboten und westliche Nachrichtenstandards eingeführt, sagte Hahn.

Moderation: Elke Durak | 01.11.2006
    Elke Durak: Heute vor zehn Jahren ging der arabische Fernsehsender Al-Dschasira das erste Mal auf Sendung. Manche nennen ihn das arabische CNN, andere immer noch Haussender Bin Ladens und anderer Terroristenführer oder Geiselnehmer, wahlweise auch die Stimme der arabischen Welt. Aber Al-Dschasira ist damit vielleicht sowohl überschätzt als auch überfordert. Darüber kann uns Professor Oliver Hahn vielleicht Auskunft geben. Er ist Medienwissenschaftler an der Business and Information Technology School in Iserlohn und am Journalistik-Institut der Universität Dortmund, jetzt am Telefon. Herr Hahn, was unterscheidet denn Al-Dschasira von anderen arabischen Nachrichtensendern, dass man ihm dies alles zuschreibt?

    Oliver Hahn: Also als Al-Dschasira vor zehn Jahren eingeführt wurde, war das sozusagen eine Art Revolution, eine journalistische Revolution, eine Nachrichtenrevolution in der arabischen Welt, weil man bis dato eigentlich nur Staatsfernsehen kannte. Staatsfernsehen zu 100 Prozent gelenkt von den jeweiligen Regierungen und Machthabern hatte den Zuschauern auch nicht mehr zu bieten als Protokollnachrichten, Verlautbarungsjournalismus, gleichsam welcher Emir hat welchem Scheich wann und wo die Hand geschüttelt, also kein Journalismus, kein Nachrichtenverständnis nach unserem westlichen Verständnis, und als Al-Dschasira eben vor zehn Jahren eingeführt wurde, wurden sozusagen westliche Nachrichtenstandards auch in der arabischen Welt eingeführt, denn die meisten Redakteurinnen und Redakteure der ersten Stunde von Al-Dschasira kamen ja von dem damaligen arabischen Fernsehdienst der BBC in London, waren also beruflich im Westen ausgebildet, sozialisiert, und sind dann sozusagen mit ihrem arabischen Background, mit ihrem arabischen kulturellen Hintergrund nach Doha in Qatar gegangen, um da den ersten relativ politisch unabhängigen Sender der arabischen Welt aufzubauen.

    Durak: Wer finanziert Al-Dschasira?

    Hahn: Bis heute wird Al-Dschasira eigentlich von dem Emir des kleinen Emirats Qatar am Golf finanziert. Der Emir hatte auch damals sozusagen die Initiative ergriffen, diesen Sender zu gründen, und finanzierte den Sender damals mit einem Anlaufstartkredit von 140 Millionen US-Dollar. Nach fünf Jahren sollte der Sender den Breakeven erreichen, also finanziell auf eigenen Füßen stehen, das wäre 2001 gewesen, das hat er bis heute nicht geschafft, weil die prognostizierten Werbeeinnahmen bis heute ausgeblieben sind.

    Durak: Und trotzdem sprechen Sie davon, dass es ein Bruch mit der bis dato arabischen Nachrichtengebung sozusagen mit Al-Dschasira gegeben hat. Wer nimmt redaktionell Einfluss - der Emir?

    Hahn: Der Emir betont natürlich immer öffentlich, dass er überhaupt keinen Einfluss nimmt, und Al-Dschasira ist eigentlich an Kritik von allen Seiten gewöhnt, also nicht nur von Israel oder den USA oder dem Westen, sondern auch von arabischen Nachbarregierungen, weil die auch nicht so richtig wissen, wie sie mit Al-Dschasira umgehen sollen, und wenden sich immer an den Emir, wenn sie sich beschweren, und der verweist natürlich darauf, dass sie doch bitteschön beim Sender selber anrufen sollen. Das heißt, er betont öffentlich, er nimmt keinen Einfluss darauf, allerdings muss man auch sagen, sein Bruder sitzt im Aufsichtsrat von Al-Dschasira, das heißt, indirekt wird schon Einfluss genommen, auch auf Grund der Tatsache, dass Al-Dschasira beispielsweise über die eigene Heimat, nämlich das Zwergemirat Qatar überhaupt nicht berichtet. Man könnte gleichsam sagen, die große Freiheit des kleinen Senders beginnt erst hinter den Staatsgrenzen, also über alles wird berichtet, bloß nicht über Innenpolitik Qatars.

    Durak: Die Frage ist ja vor allem, wie wird berichtet. Herr Hahn, Sie haben gesagt, westliche Nachrichtenstandards sind eingeführt worden. Wir fragen uns sehr häufig, werden die auch eingehalten, denn wenn man Videobotschaften von Terroristenführern ständig sozusagen als erste und einzige verbreitet, wenn man Aufnahmen von Geiselnahmen, Geiselnehmern veröffentlicht, das wurde sehr, sehr lange getan, sind das westliche Nachrichtenstandards?

    Hahn: Das sind natürliche keine Nachrichtenstandards in dem Sinne. Andrerseits behaupte ich, dass, wenn westliche kommerziell arbeitende Nachrichtensender, allen voran sicherlich CNN, aber sicherlich auch die BBC World, als erste sozusagen diese Videotapes von Bin Laden und Konsorten bekommen hätten, ich glaube, dass die das auch aus kommerziellen Gründen ausstrahlen würden. Also den Vorwurf jetzt nur in Richtung Al-Dschasira zu machen, wäre wahrscheinlich zu einseitig.

    Durak: Hat der Sender irgendein Credo, irgendeine Botschaft, die er auf jeden Fall verfolgt?

    Hahn: Also er möchte sich natürlich zum Global Player entwickeln, Global Nachrichtenplayer, wenn man so will, und somit auf Augenhöhe mit CNN und BBC auch weltweit konsumiert werden, gerade was natürlich die Krisen- und Kriegsberichterstattung aus der Region Naher und Mittlerer Osten angeht. Im Moment versucht er sozusagen finanziell auch auf eigene Füße zu kommen und hat so ein relativ witziges Werbelogo an der Haustüre stehen, nämlich: "Alle Welt schaut CNN, und was schaut CNN? Al-Dschasira."

    Durak: Da muss man erst mal lachen, aber es ist doch recht ernst. Al-Dschasira hat lange Zeit Terroristenvideos und Geiselnehmervideos, -aufnahmen verbreitet. Ist das unter objektiver Berichterstattung tatsächlich nach westlichem Standard zu verstehen, Herr Hahn?

    Hahn: Also sicherlich kann man nicht von objektiven Standards sprechen in Krisenberichterstattung, zumal wenn sozusagen die eigene arabische Kultur nicht jetzt als Staat, sondern als Kultur ja irgendwie direkt an dem Konflikt beteiligt ist. Das heißt, auch die arabischen Journalistinnen und Journalisten von Al-Dschasira bewegen sich irgendwo in einem Spannungsfeld zwischen Neutralitätsanspruch als Journalistinnen und Journalisten, die unter anderem auch im Westen sozialisiert wurden, und auf der anderen Seite natürlich auch so etwas wie Publikumsbindung. Vielleicht als Beispiel die Berichterstattung über so genannte Märtyrer. Also Al-Dschasira spricht von Märtyrern im arabischen Sinne, wenn es sich um Selbstmordattentäter handelt, in Palästina oder aber auch im Irak. Das kommt bei uns im Westen immer als Partei ergreifend für eine Seite an.

    Durak: Ist es das nicht?

    Hahn: Das ist es eigentlich nicht, weil das Wort "Märtyrer" im Arabischen erstmal von dem Wort "Bezeugen" kommt, und jedes zivile Opfer in einem bewaffneten Konflikt wird sozusagen im arabischen mit "Märtyrer" übersetzt, irgendwann in einer anderen Wortbedeutung heißt es auch tatsächlich Märtyrer im Koran, aber es heißt erstmal ziviles Todesopfer sozusagen.

    Durak: Kann man aber auf dieser Seite der Nachrichtengebung ignorieren, dass das Wort "Märtyrer", um mal bei dem Beispiel zu bleiben, bei den Adressaten dieser ganzen Angelegenheiten im Westen ganz anders ankommt?

    Hahn: Natürlich, das weiß inzwischen Al-Dschasira auch. Al-Dschasira hat sich selber einen so genannten Ethikcodex gegeben, in dem halt künftig darauf verzichtet werden soll. Man versucht dann sozusagen mit einem Kunstwort tatsächlich dem Wort "Selbstmordattentäter" nahe zu kommen, so wie es beispielsweise auch der kleine Konkurrent Al-Arabia in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten tut. Aber vielleicht noch mal auch, um die andere Seite der Medaille zu zeigen: Wenn beispielsweise westliche Sender wie CNN im Englischen oder auch deutsche Sender von der Politik der israelischen Armee als gezielte Tötung sprechen, also wenn die Armee Israels sozusagen Angriffe auf mutmaßliche Terroristen fährt, dann wird ja auch immer das Wort "gezielte Tötungen" oder "target killings" übernommen, und Sie können jeden Strafrechtler fragen, eine gezielte Tötung ist Mord, und da fragt man sich natürlich, warum in der Berichterstattung dann dieser Euphemismus, diese Schönfärberei genommen wird und warum nicht von Mord gesprochen wird. Also ich sehe auch gewisse Einseitigkeiten auf der westlichen Seite.

    Durak: Es gibt auch noch eine andere Bezeichnung für Al-Dschasira, also nicht nur Propagandasender der Gotteskrieger, sondern auch die Wutverstärker. Sind sie das nicht auch?

    Hahn: Natürlich muss man immer sagen, jedes Medium, jeder Fernsehsender arbeitet ja nicht in sozusagen hermetisch abgeriegelten Kulturräumen, sondern er arbeit in einem Kultursystem, in einem Kommunikationssystem, das tun die deutschen Nachrichtensender, das tun amerikanische, das tun britische, so tun es auch eben die arabischen, und wenn, wie gesagt, sozusagen das Zielpublikum, das primäre Zielpublikum, was im Falle von Al-Dschasira eben das arabische ist, so unmittelbar beteiligt ist an dem Nahostkonflikt, also im weitesten Sinne Nahostkonflikt, nicht nur Israel-Palästina, sondern auch Irak usw., dann ist natürlich auch ganz klar, dass sie auch mit diesem Kommunikationssystem und mit diesem Werteverständnis des eigenen Publikums arbeiten, und dass natürlich viele Leute dann sozusagen noch wütender werden, wenn Al-Dschasira entsprechend in die Richtung auch berichtet, kann ich mir gut vorstellen. Aber ich sehe Ähnliches eben auch bei CNN und BBC World. Je länger man darüber nachdenkt, umso mehr Ähnlichkeiten findet man eigentlich zwischen den westlichen Nachrichtensendern und Al-Dschasira oder Al-Arabia, als dass man Unterschiede findet.

    Durak: Das war Oliver Hahn, Medienwissenschaftler und Nahostexperte; heute vor zehn Jahren ging der arabische Nachrichtenkanal Al-Dschasira das erste Mal auf Sendung.