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Nachruf auf Karl Lehmann
Der Freigeist mit Kardinalshut

Der frühere Mainzer Bischof und ehemalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, ist tot. Er kämpfte für eine liberalere Kirche. Viele Theologen nannten ihn zudem den "letzten Intellektuellen auf einem Bischofsstuhl". Ein Nachruf.

Von Christiane Florin | 12.03.2018
    Lehmann lächelt in die schief gehaltene Kamera, hinter ihm sieht man unscharf die Statue einer Bischofsfigur.
    Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann am 04.05.2016 in Mainz (Rheinland-Pfalz) (Boris Roessler / dpa)
    Interviews mit Karl Lehmann waren leicht und schwierig zugleich. Leicht, weil in seinem "Guten Tag!" zur Begrüßung immer ein Lachen mitschwang, ganz gleich, wie kontrovers das Gespräch auch werden würde. Und schwierig, weil er in jeder Antwort sein umfassendes Wissen und sein phänomenales Gedächtnis unterbrachte.
    Er sagte Sätze wie: "Das müssen Sie im Lichte der Konzilsdokumente Lumen Gentium und Gaudium et Spes betrachten". Oder: "Darüber haben wir in der außerordentlichen Sitzung des ständiges Rates der Bischofskonferenz im Herbst 1998 unter Tagesordnungspunkt 5a gesprochen." Für kurze, knackige Antworten hatte er zu viel erlebt und zu viel gelesen. Es ist immer komplizierter, als Sie glauben – das sprach aus fast jedem seiner Sätze. Zum Beispiel, wenn ihm einer das Etikett "liberaler Kardinal" anheften wollte:
    "Ich mag das Wort in dieser Allgemeinheit nicht, obwohl mir der ursprüngliche Sinn vom Lateinischen her – 'liberalis', das heißt ja eigentlich 'großzügig', 'großherzig' und 'weit' –, das passt mir dann schon also eher. Auf jeden Fall in der heutigen Welt ist zunächst einmal Offenheit und Hinhören und immer sich auch fragen, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit in Dingen steckt, wo man sich vielleicht zuerst ärgert, das muss man auf jeden Fall. Und da habe ich also beste Erfahrungen gemacht. Öfter hinhören und bereit sein zu lernen, bereit sein auch sich zu korrigieren, das gehört einfach dazu."
    Traumberuf Professor
    Stets kämpfte in ihm der Akademiker mit dem Amtsträger. Als Karl Lehmann 1983 zum Bischof von Mainz geweiht wurde, lag hinter dem damals 47-Jährigen eine viel beachtete universitäre Laufbahn. Zwei Doktortitel hatte er, einen in Philosophie, einen in Theologie. Nur Priesterseminar, das wäre ihm zu wenig gewesen. Karl Rahner, einer der prägenden Denker des Zweiten Vatikanischen Konzils, machte den jungen Wissenschaftler zu seinem Assistenten. Anfang der 1970er-Jahre wurde Lehmann Professor für Dogmatik in Freiburg, ein Traumberuf, wie er später immer wieder schwärmte.
    Er stammte aus einem undogmatischen Milieu. Der Vater Volksschullehrer in Veringenstadt bei Sigmaringen, die Mutter Buchhändlerin. Man war gut katholisch, aber erkenntnisoffen. Als 1979 der Tübinger Theologen-Kollege Hans Küng die Lehrerlaubnis verlor, kritisierte der Lehmann öffentlich die Entscheidung der Glaubenskongregation öffentlich. Ein rabenschwarzer Tag für die Theologie sei das, sagte er. Einige Jahre später wurde der Professor für Dogmatik selbst zum hochrangigen Kirchenmann.
    Bischof, ist auch das ein Traumjob? Der Abschied von der akademischen Freiheit sei ihm schwergefallen, gestand er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2016. Ein Bischof verspricht Gehorsam und kann Gehorsam verlangen. Beides passte nicht so recht zu dem freien Freiburger Geist.
    Spannungen mit Rom
    Doch Karl Lehmann fand schnell Geschmack am Amt – und an einer kirchenpolitischen Karriere. Er wurde zunächst stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, dann 1987 Vorsitzender. Der Chef der deutschen Mitra-Träger war er damit zwar nicht, doch medial galt "der Mainzer", wie er genannt wurde, als oberster deutscher Katholik, und das mehr als 20 Jahre lang.
    Spannungen zwischen Rom und Deutschland haben Tradition. Schon beim Ersten Vatikanischen Konzil 1870 waren die deutschen Bischöfe gegen die Unfehlbarkeit des Papstes. Gut ein Jahrhundert später standen die Beziehungen wieder unter Hochspannung. Karl Lehmann versuchte 1993 zusammen mit zwei anderen Bischöfen zu ermöglichen, dass wieder verheiratete Geschiedene die Kommunion empfangen dürfen. Rom sagte nein. Er, der Doppeldoktor, der Dogmatikprofessor, wurde lehramtlich abgekanzelt wie ein Schuljunge. Erst 20 Jahre später setzte Papst Franziskus durch, was Lehmann und die Gleichgesinnten damals wollten. Ein später Sieg:
    "Ich empfinde jetzt schon, eine gewisse Genugtuung feststellen zu können, dass wir doch auch gut daran getan haben, auch in der Zeit danach, nicht nachzugeben. Am krassesten ist für mich der Unterschied: Wir haben damals, in dem 1994 dann folgenden Schreiben der Glaubenskongregation, als massivste Kritik gehört, dass unsere Berufung auf ein freilich gebildetes Gewissen im Grunde genommen unmöglich sei in der Frage. Und im jetzigen Schreiben des Papstes finden sich mindestens vier oder fünf Stellen, wo eine Entscheidung ohne Gewissensprüfung letzten Endes gar nicht möglich ist. Nach fast 40 Jahren Beschäftigung damit fühle ich mich doch ein bisschen im Recht."
    Bis 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
    Noch offensichtlicher als beim Thema Ehe wurde das Spannungsverhältnis zwischen der Katholischen Kirche in Deutschland und dem Vatikan Ende der 1990er-Jahre in der Frage der Schwangerenkonfliktberatung. Die Mehrheit der deutschen Bischöfe hatte unter Lehmanns Führung dafür gestimmt, dass sich die katholische Kirche am staatlichen System der Schwangerenkonfliktberatung beteiligte. Das hieß: Auch in kirchlichen Beratungsstellen sollte es jene Scheine geben, mit denen eine Frau eine Abtreibung straffrei vornehmen lassen kann. Die unterlegenen Amtsbrüder – darunter Lehmanns ständiger Rivale aus Köln Joachim Meisner – intervenierten in Rom. Ihre Begründung: Diese Scheine seien die Lizenz zum Töten. Papst Johannes Paul II. gab ihnen Recht und verbot die Beteiligung am staatlichen System. Bis heute schwelt dieser Konflikt weiter.
    Trotz der öffentlichen Düpierung blieb Lehmann bis 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Kirchenmänner, die sich wie er auch als Intellektuelle in gesellschaftspolitische Debatten einmischen, waren schon damals rar. Lehmann war Gesprächspartner für Politiker verschiedener Parteien, für Unternehmer, Schriftsteller und Journalisten, für Christen wie Nicht-Christen. Gerade wegen seiner öffentlichen Niederlagen im Streit mit Rom stand er für eine Katholizität, die etwas anderes bedeutet als blinder Gehorsam und reine Lehre. Er rang um Argumente und Standpunkte. Fragte man ihn nach den innerkirchlichen Reizthemen Frauenweihe und Homosexualität, antwortete er ebenso ausführlich wie ausweichend. Meistens schloss die Antwort mit dem Satz: "Darüber muss ich weiter nachdenken."
    Innerkirchlich hatte er Kritiker in beiden Lagern
    Als sich Karl Lehmann an Pfingsten 2016, nach jesuanisch-symbolischen 33 Jahren aus Mainz verabschiedete, bekam er nicht nur das übliche Pontifikalamt, sondern auch eine weltliche Abschiedsparty wie ein Staatsmann. Populär war er in Mainz und dem deutschen Erdkreis. Innerkirchlich hatte er Kritiker in beiden Lagern.
    Die Liberalen nahmen ihm übel, dass er im Streit mit Rom nicht zornig seine Bischofsmütze an den Nagel hängte. Stattdessen ließ er sich 2001 den Kardinalshut aufsetzen. Das rechtskonservative Lager verehrte ohnehin Joachim Meisner, der die Wahrheit gepachtet hatte. Es verachtete einen wie Lehmann, der die Wahrheit denkend, lesend, zuhörend suchte.
    Den "letzten Intellektuellen auf einem Bischofsstuhl" nennen ihn viele Theologen. Als volksnahen Hirten empfanden ihn viele an der Basis. Wer ihm in den vergangenen Jahren begegnete, fühlte sich an eine Zeit erinnert, als die katholische Kirche ein gewichtiges Gegenüber war, als die Konflikte, die sie austrug, noch gesellschaftspolitisch relevant waren.
    Sprach man ihn auf den Bedeutungsverlust der katholischen Kirche an, dann konnte der weiträumig gebildete Kardinal auch ganz kurz und knapp antworten:
    "Ach, auf manche Fragen, die auch Lebensfragen der Menschen sind, ist man eben lange Zeit nicht eingegangen, aus verschiedenen Gründen. Ich bin überzeugt, dass manches einfach zu lang gegangen ist, wenn man vier, fünf Jahrzehnte an denselben Fragen hockt."