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Nachruf
Fritz Marquardt war eigenwillig und speziell

Fritz Marquardt war ein DDR-Kind, vom sozialistischen Realismus geprägt. Ein politischer Quengler, den die deutsche Geschichte schon früh ereilt hatte. Bis zum Mauerfall hatte er die DDR nicht verlassen. Nach einiger Regiearbeit wechselte er 1983 ans Berliner Ensemble. Am Dienstag ist er im Alter von 85 Jahren gestorben.

Von Michael Laages | 06.03.2014
    Fritz Marquardt 28.08.91
    Fritz Marquardt im Jahr 1991 als er künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles war. (dpa - picture-alliance / ZB)
    Ganz eigen und speziell war schon seine Arbeit im Theater – unvergesslich bleiben die Besuche in Amalienhof, dem uckermärkischen Refugium, das der Regisseur Fritz Marquardt im Alter bezog. Vor allem die Abschiede rührten zu Tränen. Immer wieder hatte er (für eine Buchrecherche kurz vor dem 80. Geburtstag) in Gesprächen den eigenen Erinnerungsschatz geöffnet; und stets stand der knorrig-kleine alte Mann, das zerfurchte Gesicht mit dem struppigen Schnurrbart und den tief liegenden Augen unter extrem buschigen Brauen sowie der unverzichtbaren Schiebermütze auf der Glatze, danach am Holztor des unscheinbaren Hauses im Wald und schaute uns lange nach. Immer schien es so, als könnte dies auch der letzte Besuch gewesen sein.
    Fritz Marquardt hat ein extrem deutsches Leben gelebt; im Theater, davor und danach. Geboren am 15. Juli 1928 in Groß-Friedrich (zwischen Oder und Warthe und heute in Polen gelegen), wuchs er auf einem Bauernhof auf, in ärmlichsten Verhältnissen; als er 17 war und der Krieg vorbei, verschleppten ihn sowjetische Truppen nach Sibirien. Bei der Rückkehr hatte der Vater einen eigenen "Neubauernhof" bekommen im Oderbruch, und der Junge landete auf der Arbeiter- und Bauern-Fakultät in Potsdam.
    An der Humboldt-Universität hörte er dann den Philosophen Wolfgang Heise, einen undogmatischen Sozialisten in der jungen DDR; niemand habe widerspenstiges Denken so sehr gefördert bei ihm wie er, erzählte Marquardt später. Der Student schrieb über "Das Komische bei Hegel" und wurde Redakteur einer Dorfzeitung, dann Bauhilfsarbeiter im Erdölkombinat in Schwedt; per Zufall landete er in der Redaktion des Fachblatts "Theater der Zeit". Und im August 1961, kurz nach Mauerbau, saß er in der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst und sah Studierenden dabei zu, wie sie unter Regie von B.K. Tragelehn Heiner Müllers Erstlingswerk "Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande" spielten.
    Von da an war alles anders. Müller erhielt quasi Schreibverbot, Marquardt wollte von nun an selber Theater machen. Auf schrägen Wegen – als Archivar in der Volksbühne bemühte er sich um Regie-Assistenz; und flog raus. Mit nichts an Erfahrung in der Hand begann er als Chef-Dramaturg in Parchim, inszenierte Büchners "Woyzeck" (unter anderem mit Jürgen Gosch) – und flog wieder raus. In Szenenstudien durfte er an der Filmhochschule in Babelsberg unterrichten – und war auch dort das Schreckgespenst der Offiziellen.
    Mit über 40 kehrt Marquardt zurück an die Volksbühne, zu Benno Besson – und erst hier beginnt die Karriere. Marquardt inszeniert konzentriert und kühl, misstraut jeder Form von Naturalismus und setzt auf streng formale Arrangements ohne alle Sperenzchen. Das genaue Gegenteil des furios verspielten Besson ist er – dessen Moliere-Übersetzung vom "Menschenfeind" wird bei Marquardt zum "Menschenhasser".
    Theater ist eine Baustelle für ihn … und 1976 erfüllt er eine spezielle Pflicht: Besorgt die professionelle Uraufführung des Müller-Stücks von 1961, das jetzt "Die Bauern" heißt. Fotos gibt’s, in der Marquardt selbst wie eine Figur der eigenen Inszenierung wirkt – er wusste besser als alle anderen, wovon Müller erzählt hatte. Die Aufführung, wieder in strenge Form gezwungen, ist legendär.
    Erfolgreich aber ist Marquardt auch an der Volksbühne nicht; nur eigenwillig und speziell. So wenig schätzt die Kulturpolitik den Genossen Marquardt, dass er Einladungen aus Holland gern annehmen darf, sogar aus dem deutschen Westen. Marquardt ist im Grunde der Erste, der westdeutsches Publikum in Bochum, Mannheim und München, mit "DDR-Theater" bekannt macht; Manfred Karge und Matthias Langhoff folgen, bald kommt auch Jürgen Gosch. Noch in Vorwendezeiten holt ihn der Intendant (und Kulturpolitiker) Manfred Wekwerth nach Berlin zurück, ans Berliner Ensemble – hier inszeniert er den lange ignorierten Ost-Autor Georg Seidel, Horvath und (natürlich) Heiner Müller; der holt ihn 1992 in die fünfköpfige Leitung am neuen Berliner Ensemble. Und wieder mal "passt" Marquardt hier nicht her; mit Müllers Tod Ende 1995 erlischt auch Marquardts Regie-Kraft.
    In Amalienhof bei Wolfshagen hat er gemalt, gezeichnet und Skulpturen geschaffen; zurückgezogen hat er sich von allem und (fast) allen. Frank Castorfs Berliner Volksbühne bereitete Marquardt zum 80. Geburtstag ein wirklich rauschendes Fest; nur einige der allertreuesten Freunde, der Schauspieler Hermann Beyer etwa, kamen im vorigen Sommer zum 85.
    Vielleicht hat er sie ja noch verabschiedet, winkend am Holztor.