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Nachschlagewerk zur russischen Kunstrevolution

Das neu aufgelegte Standardwerk von Felix Philipp Ingold ist eine Gesamtdarstellung Russlands am Vorabend des Ersten Weltkriegs und zugleich eine hervorragende Einführung in Literatur und Kunst der russischen Avantgarde. Das Buch ist eine unerschöpfliche Fundgrube, in der man immer wieder blättern und nachschlagen möchte.

Von Karla Hielscher | 29.08.2013
    Wie gut, dass dieses bewunderungswürdige Standardwerk des bekannten Slawisten, Schriftstellers und Übersetzers Felix Philipp Ingold über den großen kulturellen Umbruch 1913 in Russland nun im Jubiläumsjahr in einer schön gestalteten und erweiterten Auflage neu erschienen ist.

    Denn es ist dies ein Buch, das mit seiner enzyklopädischen Gelehrsamkeit und wissenschaftlichen Präzision, seiner riesigen Auswahl von Dokumenten, seinen zahllosen Fotos und Abbildungen die wohl umfassendste zeit- und kulturgeschichtliche Gesamtdarstellung Russlands am Vorabend des Ersten Weltkriegs ist und zugleich eine hervorragende Einführung in Literatur und Kunst der russischen Avantgarde. Ein unentbehrliches Handbuch und Nachschlagewerk zur Kunstrevolution mit zahllosen Namen, Daten und Fakten, ist es trotzdem alles andere als ein trockenes Wissenskompendium, sondern bietet ein plastisches, buntes Panorama der Zeit voller konkreter Beispiele, signifikanter Details und relevanter Schlüsselszenen.

    Ingolds Vorwort zur Neuausgabe ist – unter dem Titel "Zerstörung als Schaffensprinzip" - ein überaus erhellender Kommentar zum Verständnis und historischen Standortbestimmung der russischen Avantgarde. In der Staatsideologie des heutigen Russlands gilt die Kunstrevolution der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg als volks- und traditionsfremd, wird bewusst aus der patriotischen Kulturtradition ausgeschieden und einem "westlich" orientierten Internationalismus zugeordnet. So ist zu erklären, dass etwa das Auftreten der Punkrockgruppe "Pussy Riot", das klar auf die 1913 uraufgeführte futuristische Oper "Sieg über die Sonne" zurückverweist, einfach nur kriminalisiert wird. Als wegweisende Traditionslinie gilt heute die realistische Prosa des 19. Jahrhunderts sowie das Schaffen der religiös engagierten Symbolisten der Vorrevolutionszeit.
    Dabei war es diese kurze innovative Kulturepoche der 10er-Jahre in Russland, die eine Kunstrevolution von gesamteuropäischer Tragweite bedeutete, waren es "Revolutionäre" der Wort- und Bildkunst wie Majakowskij, Chlebnikow, Krutschonych und Malewitsch, die mit ihrem radikalen Furor der Zerstörung jeder Tradition auch für den Westen zum Vorbild und für den weiteren Weg der modernen Kunst überhaupt mitbestimmend wurden.
    Durchgehender Denkansatz Ingolds ist es zu zeigen, dass dieser einschneidende Traditionsbruch eine ungeheure Innovationsleistung darstellt: Den produktiven Errungenschaften der Avantgarde wie Bildcollage, Filmmontage, des "Wortes als solchem" und der transmentalen Poesie liegen die destruktiven Gestaltungsformen des Zerstückelns, Zerschneidens, Brechens, Verschiebens zugrunde, die sich in Bildsymbolen wie Säge, Schere, Messer, Sichel finden. Zerstörung ist die Voraussetzung für konstruktive Erneuerung.

    Es verblüfft immer wieder, wie all diese Entwicklungen sich gerade im letzten Jahr vor dem Ersten Weltkrieg konzentrieren, das ja längst als Schlüsseljahr, als "Epochenschwelle" und hohe Zeit der europäischen Moderne verstanden und dargestellt wird. Jedoch waren die bisher vorliegenden Arbeiten vor allem auf Westeuropa beschränkt, und in denen zu Russland ging es allein um Kunst und Literatur.

    Ingold nun hat sich zum Ziel gesetzt, die Kunstentwicklung in das soziale, politische und ökonomische Umfeld sowie die technische Entwicklung und das Alltagsleben Russlands einzubetten. Das ist vor allem auch deshalb auf verlässlicher Basis möglich, da für 1913 die letzten umfassenden statistischen Erhebungen vorliegen, die nachweisen, dass in diesem Jahr der höchste Entwicklungsstand in der Geschichte des zaristischen Imperiums zu verzeichnen war, dass es ein russisches Wirtschaftswunder gab, während die drängenden sozialen Probleme nicht angegangen wurden.

    Das Buch besteht also aus mehreren Teilen mit unterschiedlichen Textarten. Der Hauptteil ist die beeindruckende, über 200 Seiten lange, beschreibende Gesamtdarstellung des "Großen Bruchs" – so der Titel – in der russischen Gesellschaft und Kultur durch den Autor. Da geht es um die Wirtschaftslage und die politische Kultur, die Feierlichkeiten zum 300-jährigen Bestehens des Hauses Romanow, um das russische Flugwesen, die Suizidwelle von 1913, die Revolutionierung der russischen Bühne und die Musikkultur, um Futurismus, Kubofuturismus, Neoprimitivismus, um die Akmeisten, aber auch die beim breiten Publikum durchaus weiterhin dominierende "realistische" Manier und die Nachhut des Symbolismus und vieles, vieles andere. Längere spannende Zitate aus zeitgenössischen Quellen bereichern die einprägsame Darstellung und machen sie äußerst farbig und lebendig.

    Dem folgt als zweiter Teil eine genaue Chronologie der wichtigsten Ereignisse des Kunstbetriebs im Jahr 1913, begleitet jeweils von einer knappen Synopse mit Westeuropa.
    Der dritte Teil besteht aus einer groß angelegten Auswahl von Textdokumenten – Manifesten, Programmschriften, Traktaten zur Wort- und Bildkunst, zum Theater und Film – der Großteil davon erstmals in deutscher Übersetzung. Besonders anregend und vergnüglich für den Leser natürlich die literarisch verarbeiteten Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen bedeutender Autoren über das Jahr 1913, das Majakowskij "ein fröhliches Jahr" genannt hatte.

    Zusammen mit seinem Anhang, bestehend aus Glossar zu Institutionen, Epochenstilen, künstlerischen Gruppen, Personenregister und weiterführender Literatur ist das Buch eine unerschöpfliche Fundgrube, in der man immer wieder blättern, nachschlagen und sich zu neuen Entdeckungen anregen lassen kann.

    Literaturhinweis:
    Felix Philipp Ingold, Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur Gesellschaft Politik. Erweiterte Neuauflage, Matthes& Seitz, Berlin 2013, 645 Seiten, 49,90 Euro.