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Nachtrandspuren

Nachtrandspuren": es gibt ja 2 Nachtränder. Den einen Nachtranderleben wir abends, den anderen Rand der Nacht am frühen Morgen, und mich haben immer die Lichtverhältnisse, das Verhalten des Lichts interessiert, und da in diesem Bändchen auch sehr viel von Licht und den verschiedenen Lichterzeiten in den verschiedenen Jahreszeiten, dieses Lichtverhalten zur Sprache kommt, wurde letzten Endes dieser Titel gewählt: "Nachtrandspuren", diese Spuren, die dieses Licht legt, und damit auch mein Verhalten in diese Welt und das Verhalten dieser Welt in mein Wahrnehmen, in das, was mich berührt und auch anspornt, anstachelt zum Schreiben ins erste Notat, in die erste Begegnung mit Wörtern, die dann vielleicht zum Gedicht anwachsen.

Claus Lüpkes | 28.05.2003
    Spuren, die das Licht legt: Nachtrandspuren. Entstanden sind diese insgesamt 88 Gedichte zumeist unterwegs, auf Reisen, die José Oliver immer wieder die Gelegenheit boten, dem Licht auch anderswo nachzuspüren:

    Ich hatte eine wunderbare Lesereise nach Australien: einen sehr schönen Auftritt dort, in Sidney, im Opera-House: für mich das Faszinierendste, was ich je erlebt habe, weil dort meine Gedichte zum ersten Mal in dieser weltbekannten Muschel auch getanzt wurden. Also ich hatte auch die Bewegung auf der Bühne. Und das war ein eigenes Erleben. Und dann die Begegnung mit den Menschen dort, vor allem aber mit den Lichtverhältnissen dort: Sidney ist ja in Polarnähe, d.h. es ist ja ein ganz anderes Licht am frühen Morgen. Und das habe ich jeden Morgen als Tagesbeginn quasi abgeschrieben und daraus ist ein Zyklus entstanden.

    Anschließend an diesen Aufenthalt in Australien führte Oliver im Winter 2001 eine andere Lesereise (für 2 Monate) nach Kanada, nach Montreal:

    Ich war bestimmt schon vier oder fünf mal eingeladen nach Montreal, hab dort gelesen. Und die Stadt, dieser französische Flair, dieser französische Flair, die französische Sprache der Quebequois, die hat mich immer fasziniert, weil Französisch sowieso zu einer meiner Lieblingssprachen gehört oder eine meiner Lieblingssprachen ist, durch die Nähe zu Frankreich, und dann auf dem amerikanischen Kontinent plötzlich diese Weiterentwicklung des Europäischen zu erleben, dieses Laissez-faire, dieses Savoir-vivre, im Gegensatz zu andern Ländern Nordamerikas... Und ich hab mich wohlgefühlt in dieser Stadt und war dort immer wieder auch für längere Zeit. Und ich liebte die Spaziergänge und die Begegnungen. Ich glaube, ich bin zum ersten Mal in meinem Leben auch wirklich einem jüdischen Viertel begegnet und sah diese orthodoxen Juden, diese schwarzen Gestalten, im Schnee, es war im Winter, meistens war ich im Winter dort und das hat mich sehr inspiriert in andere Zeiten, und dadurch entstanden auch einige Verszeilen. Dann die Begegnung mit der Literatur dort: das war für mich eine Entdeckung, ich hab die französischsprachige Literatur Kanadas nicht gekannt: ich hab einen Dichter entdeckt, einen der größten überhaupt der französischen Sprache, der in Deutschland wahrscheinlich relativ wenig bekannt ist – ich weiß nicht einmal, ob er in Frankreich sehr bekannt ist: Emile Nelligan, der das schönste Wintergedicht geschrieben hat. Und ich hatte dann das Glück, dass ich in der Rue Lavalle, wo Nelligan lebte, im Hause Nelligans nicht nur eine kleine Lesung hatte, sondern auch in dieser Straße für eine Woche lang gelebt habe. Und es war Winter, es hat geschneit und ich bin aufgegangen in diesem Gedicht, das so schön "Soir d’Hiver" heißt und diese kindliche Wahrnehmung, diese Sehnsucht zum Ausdruck bringt, die ich aus meinen Kindstagen kenne, wenn ich an die Winternachmittage, an die eingeschneiten Winternachmittage denke.

    Im Sommer letzten Jahres war José Oliver dann/schließlich als Stadtschreiber in Dresden. Eine Stadt, zu der Oliver seit langem eine besondere Beziehung hat und die er bereits vor Jahren kennen gelernt hatte, zumindest flüchtig:

    "Flüchtig” ist sogar gut, weil: ich habe Dresden kennengelernt in meinen Kindertagen über die Erzählungen von Flüchtlingen, die die Bombennacht in Dresden erlebt hatten. Mich haben seinerzeit diese Geschichten einfach fasziniert, wenn ein Familienfest war bei diesen Freunden, die aus Riga kamen über Dresden dann irgendwann im Schwarzwald gelandet sind oder hier angekommen sind oder ankommen mussten, ankommen durften und der Großvater immer wieder nach dem dritten oder vierten Glas Wein von dieser Bombennacht erzählt hat, da saßen wir als Kinder da und haben zugehört und es war für uns unbegreiflich. Dann die erste Lesung, die ich in Dresden hatte, viel später – und aus Zeitgründen konnte ich nicht mit dem Zug dorthin reisen, musste fliegen, und mir wurde erst beim Anflug auf die Stadt Dresden klar, dass ich mich jetzt dieser Stadt aus der Perspektive nähere, aus der sie so zerstört wurde seiner Zeit: eines der großen barbarischen Kriegsverbrechen des 2.Weltkriegs, glaube ich. Und dann dieses Glück, dass man mir die Stadtschreiberwürde von Dresden zuerkannt hatte im vergangenen Jahr und ich diese Straßenzüge, diese Geschichte in dieser Parallelität erleben konnte. Und insofern haben sich für mich sehr viele Straßen, Straßenzüge in Dresden geöffnet, die ich aber nicht zu Ende gegangen bin, sodass ich immer wieder nach Dresden reisen kann und das wird, glaube ich, eine Lebensbeschäftigung und eine Lebensliebe bleiben, diese Stadt, die für mich eine der schönsten Städte Deutschlands ist.

    Dieser "Lebensliebe” hat Oliver in seinem Band einen eigenen Zyklus gewidmet: "Postkarten" - 16 Gedichte, die zumeist direkt in Dresden angesiedelt sind (wie das folgende):

    Dresden, Augustusbrücke

    figuren und stein/ hall beiseite vom schwarzab/ gereiften schau end/ das kreuz glüht sich w und / im gold akt der torsi/ gehobenen zeit/ im mai/ elbgras die ersten ufer/ verspielten die klang/ schriften lachen licht grün/ leichter/ stadt sanftes/ fließen der Elbe ans aug ge/ hört die farben

    So ist José Oliver immer wieder in eigener Sache unterwegs, zu Lesungen. Und auf diesen Reisen sammelt er dann oft wieder Material für neue Texte: Bilder und Klänge, Gedanken und Themen aus der Gegenwart und der Geschichte. Dabei sind das Reisen und das Schreiben für Oliver untrennbar miteinander verbunden, so wie das Unterwegssein und Umherziehen längst zu einer Lebensform geworden sind:

    Ich glaube, dass der Dichter ein Nomade ist: ein Nomade in sich, ein Nomade in seinem Verhältnis zur Welt, und diese Nomadenaugen auch hat, wenn er diese Welt sieht und diese Welt dann ins Gehör übersetzt, um den Rhythmus zu finden vielleicht ein paar Verszeilen daraus entstehen zu lassen.

    Der Dichter als rastloser Nomade, ständig unterwegs zu sich selbst und auf Reisen raus in die Welt. So sehr es aber Oliver immer wieder in die Ferne zieht, so gern kehrt er doch stets zurück nach Hause, in das kleine und überschaubare Hausach im Schwarzwald:

    Was diesen Ort wesentlich unterscheidet von großen Städten ist die entschleunigte Zeit, die ich hier erlebe, und das beruhigt mich und das gibt mir wiederum Raum, um zu schreiben.