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"Nackt unter Wölfen" in der ARD
100 Minuten KZ in der Primetime

70 Jahre hat es gedauert, bis sich ein deutscher Fernsehfilm traut, die Lagerwirklichkeit in einem KZ so drastisch darzustellen: Filmproduzent Nico Hofmann unternimmt nun den Versuch, den Stoff aus Bruno Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" noch einmal neu zu erzählen und mutet den Zuschauern dabei viel Schmerz und Schmutz zu.

Von Eric Leimann | 01.04.2015
    Peter Schneider, Sabin Tambrea, Jana Brandt, Sylvester Groth und Florian Stetter (v. links) bei der Premiere des ARD Fernsehfilms "Nackt unter Wölfen"
    Peter Schneider, Sabin Tambrea, Jana Brandt, Sylvester Groth und Florian Stetter (v. links) bei der Premiere des ARD Fernsehfilms "Nackt unter Wölfen" (Imago / Future Image)
    Filmausschnitt
    Häftling: "Herr Untersturmführer, Lager mit 47.571 Häftlingen vollzählig. Kommandiert: 342, Krankenstand: 3.297, Abgänge:109"
    Ordnung muss sein in einem Konzentrationslager, das von Deutschen betrieben wird. Auch wenige Tage, bevor die Amerikaner Buchenwald am 11. April 1945 befreien. Es war eine absurde Situation: Die SS-Führung vor Ort schwankte zwischen der Massenexekution aller Gefangenen und der Angst, für ihre Taten bald zur Verantwortung gezogen zu werden. Derweil bereiteten die kommunistischen Häftlinge im Lager einen Aufstand vor.
    Filmausschnitt
    Häftling flüstert: "Wir sind 50.000 und sie sind 1.000. Warum rennen wir nicht einfach los und bringen sie um?"
    In der apokalyptischen Atmosphäre der letzten Buchenwald-Tage versteckt ein kommunistischer Kapo ein dreijähriges jüdisches Kind im Lager. Es überlebt tatsächlich, und die Kommunisten befreien das Lager mit Waffengewalt - zumindest im Roman und im altem DEFA-Film. Nun, ganz so ist es nicht gewesen - was der neue Film von Philipp Kadelbach, der auch bei "Unsere Mütter, unsere Väter" Regie führte, gerade rücken will. Zum kommunistischen Aufstand kam es am Ende nämlich nicht.
    Filmausschnitt
    Durchsage eines Kapo-Häftlings: "Wir sind frei. Die SS ist geflohen. Wir haben das Lager in unserer Hand. Haltet Disziplin!"
    Die SS-Truppen flüchteten vor den nahenden amerikanischen Panzern. Und auch die Geschichte des Kindes war in Wirklichkeit komplizierter: Die Kapos retteten zwar das Dreijährige, opferten dafür aber das Leben eines 16-Jährigen - was der neue Film allerdings auch verschweigt. Doch selbst ohne diese zynischen Details mutet "Nackt unter Wölfen" dem Fernsehzuschauer viel zu – nämlich 100 Minuten KZ und das in der Primetime um 20.15 Uhr. Ein ziemlich unangenehmes Stück Fernsehen. So sieht es auch Produzent Nico Hofmann:
    "Ich glaube, der Film von Philipp Kadelbach hat eine ganz eigene Radikalität im Erzählen. Radikalität heißt für mich bei dem Film, den Schmerz zuzulassen beim Schauen. Also wirklich das nicht weichzuspülen. Da bin ich der Meinung, dass wir hier relativ weit gegangen sind. Ich glaube aber auch, dass es nur so geht bei dem Thema."
    Gegensatz zur DEFA-Verfilmung von 1963
    Im Gegensatz zu Frank Beyers DEFA-Film von 1963 ist die neue Version schmutziger: ausgemergelte, sterbende Körper, Hunger, Folter, Angst. All das wird ziemlich schonungslos gezeigt. Dass das Buch "Nackt unter Wölfen" und der alte DEFA-Film im Westen bis heute kaum bekannt sind, hält Drehbuchautor Stefan Kolditz für eine Altlast des Kalten Krieges:
    "Das heißt, da kommen so zwei Dinge zusammen. Das eine ist der Kalte Krieg, also die Kommunisten im Osten, die lügen ja sowieso nur. Und das andere ist eigentlich auch der Unwillen von den Leuten in zentralen Positionen, sich der eigenen Verantwortung und Geschichte zu stellen. Die Bundesrepublik- es sind kaum SS-Männer zur Verantwortung gezogen worden."
    70 Jahre hat es gedauert, bis sich ein deutscher Fernsehfilm traute, die Lagerwirklichkeit in einem KZ so drastisch darzustellen. Vielleicht ist "Nackt unter Wölfen", dessen Außenaufnahmen an der heutigen Gedenkstätte Buchenwald entstanden, auch deshalb schon jetzt in viele Länder verkauft worden. In Frankreich läuft die fünf Millionen Euro teure ARD-Produktion nächste Woche bei einem großen Sender, ebenfalls zur Primetime. Produzent Nico Hofmann wünscht sich von diesem Experiment in Sachen Event-Fernsehen einen fast schon psychotherapeutischen Effekt:
    " Wenn ich ganz kühn bin, würde ich mir wünschen, dass der Film noch mal genauso wie 'Unsere Mütter, unsere Väter' eine große Debatte in Deutschland auslöst, ob wir überhaupt jemals in der Lage waren, diesen Schmerz an uns ranzulassen. Ich würde gerne einen Debatte noch mal führen über Erinnerungskultur und auch einen Trauermoment zu öffnen, wirklich zu sagen: Das geht eben über eine didaktische Beschäftigung mit dem Dritte Reich hinaus."