Mittwoch, 24. April 2024

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Nackt

Der Mann ist ganz Stimme. Und manche Stimmen verraten, daß der Mensch was ganz Besonderes ist. David Sedaris macht seine Stimme zum Markenzeichen: eine niedlich quäkende, manchmal zittrige Stimme mit S-Fehler. Er setzt sie im Rundfunk ein, im Radio, im National Public Radio, einer Art amerikanischer Deutschlandfunk. 300 $ für 6 Minuten – solche Honorare sind in Amerika kein Geheimnis. Da liest er seit Jahren seine seltsamen, schockierenden Geschichten vor, Geschichten mit ganz ganz viel Mut zur Neurose:

Brigitte Neumann | 12.03.1999
    "Ich habe", berichtet Sedaris, eine sechs-teilige Serie mit Glossen auf den Alltag in New York gemacht. Über kleine Sachen. wie etwa die Fingernägel der Kassiererinnnen. Sie wachsen und wachsen. Bis sie sich vorne kräuseln. Wie putzen sich diese Frauen die Zähne, wie überleben sie mit dieser Behinderung? Es ist wie ohne Hände zu leben. Und das machen die freiwillig.

    Alle, die ihn hörten, stellten sich den Mann zur Stimme und den Mann zu den Geschichten vor. Die Vorstellungen verdichteten sich zu einem Gerücht. Das Gerücht hieß: David Sedaris sei ein zwergenwüchsiger Mann mit großem Kopf und rinderdicker Zunge. Seit der 42jährige New Yorker berühmt geworden ist, seit er mit seinen Bestseller-Geschichten auf Lesereisen geht, seit er in Talkshows auftritt, seither wissen die Leute, daß David Sedaris nichts dergleichen ist. 1,70 meter groß, blasser Teint, saubere Kleidung, akurater Haarschnitt. Also: ganz normal.

    Aber das paßt ihm nicht. Er wär lieber ein Monster als Normal. Wieso? Normal ist so nah am Nichts. David Sedaris liebt das Abstruse, Übertriebene, Eklige. Wird irgendwo die Flagge des Wahren, Schönen, Guten hochgehalten oder noch besser, die Fahne der political correctness, ist David Sedaris gerne mit seinen sensiblen Zertrümmerungswerkzeugen zur Stelle. Mit größtem Vergnügen, wie er berichtet:

    "Wenn meine Mutter einkaufen ging, lungerte ich oft vor dem Laden herum. Ich hoffte, wohlhabende Eheleute würden mich in ihren Kofferraum stopfen. Zunächst würden sie mich eine bis zwei Stunden lang foltern, aber sobald sie erführen, daß ich mit Golfschläger umzugehen verstand, würden sie meine Fesseln lösen und mich als Fleisch von ihrem Fleische umarmen. ‘Irgendwelche Entführer?’, fragte meine Mutter, wenn sie ihren beladenen Einkaufswagen auf den Parkplatz schob. ‘Kennst du keine kinderlosen Ehepaare?’ fragte ich dann. ‘Jemanden mit Swimmingpool oder Privatjet?’ Sie antwortete: ‘Du wärst der erste, dem ich Bescheid sage.’

    "Nackt" ist ein merkwürdiges Buch. Es erinnert an die Bücher Max Goldts. Oder an das "Buch der Desaster" von Ingomar von Kieseritzky. Dann lernte ich David Sedaris kennen und mir fiel Robert Walser ein. Robert Walser sah sich gern als Diener. David Sedaris war Reinmache-Mann.

    "Ich habe, berichtet Sedaris, "meinen Putzjob aufgegeben, damit ich dieses Buch hier fertig schreiben kann. Es war hart für mich, denn ohne einen Job weiß ich gar nicht, wo ich hingehen soll. Ich schreibe nachts, aber was soll ich dann am Tag tun? Ich brauche einen festen Job als Alltagsgerüst."

    Jetzt geht David Sedaris für zwei Jahre nach Paris auf eine Sprachenschule: auch das eine regelmäßige Tätigkeit. Neulich gabs Hausaufgaben. Sedaris und seine Mitschüler sollten sich eine eigene Geschichte mitten aus dem Leben ausdenken. Sedaris berichtet: "Die Lehrerin las meine Geschichte vor. Als einzige. Aber nur als Beweis dafür, daß ich ein Frauenhasser bin. Ich sagte : Nein. Ich bin kein Frauenhasser. Ich hasse alle Menschen. Gleichberechtigt. Ach, stimmt nicht, ich hasse sie nicht richtig. Ich weiß nicht. Ich bleib' halt lieber zu hause. Ich lese lieber was über Leute. Und manchmal hab ich auch nichts dagegen, mit ihnen zu reden. Aber meistens guck ich sie mir lieber an. Mein Adressbuch ist eben nicht besonders dick."

    Dabei kaut er heftig auf seiner Unterlippe. Und wirkt wie ein kleiner, nervöser, weißer Raubvogel. Es ist ein bißchen so, als würde die Begegnung mit Menschen ihn quälen, und hinterher im Radio, im nächsten Buch, zahlt er's ihnen heim. Für die Leute, die öfter mal einen befremdeten Blick auf die Welt und sich selbst werfen, ist David Sedaris Buch "Nackt" eine Art guter Freund. Er sieht Dinge, für die wir keine oder nicht ganz die treffenden Worte fänden. "Sinnvolle Schuhe" zum Beispiel. Das ist gut. Denn Worte sind Bilder. Und Bilder sind Gedanken. Und Gedanken sind Puzzleteile, um das Leben zu verstehen. Was zum Beispiel schreibt ein bekennender Männerliebhaber wie Sedaris über den Sex der Frauen? "Sie waren Gestalten, manche kleiner oder größer, aber keine von ihnen erotisch stärker befrachtet als die Bäume und Briefkästen, die an der Straße standen."

    Sedaris Sammlung von 17 skurrilen Geschichten trägt den Namen der letzten: "Nackt" Leider ist sie nicht die beste. Vielleicht, weil sich Sedaris im Selbstversuch in einer amerikanischen FKK-Kolonie eingemietet hat, in der berechnenden Hoffnung auf verwertbare Erlebnisse. Dazu Sedaris: "Wenn ich ein Abenteuer plane, um darüber anschließend schreiben zu können, dann überseh ich die Geschichte meistens. Und wenn ich nur so durch die Gegend stolpere, dann kommen die Geschichten oft zu mir.

    Nachdem er in der Nudistenkolonie war, sah er überall nur noch Nackte. Um sie aus dem Kopf zu kriegen, arbeitete er 10 Tage lang in einem Leichenschauhaus in Phoenix, Arizona gearbeitet. Skalpierte Köpfe, gehäutete Gesichter, kopflose Leichen. Bis jetzt ist darüber noch nichts auf Deutsch erschienen. David Sedaris, der Paris vor allem liebt weil er dort sogar beim Arzt rauchen darf, interessiert sich momentan am meisten für das Thema "Geisteskrankheiten": Depressionen, Zwangshandlungen, Schizophrenie. Er taucht nach unten, wo es schlimmer zugeht als im Horrorfilm, und er hält stand. Er ist stark. Und wird hoffentlich noch lange weiter davon erzählen, wie tief wir unten drin stecken.