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Nackte Männer und große Melancholie

Beim Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, kurz DOK Leipzig, geht es nicht nur um Preise. Das Festival ist zu einem wichtigen Treffpunkt der Branche geworden. Und auch beim Publikum wird das Genre immer beliebter.

Von Martin Becker | 30.10.2013
    Der Festivaltrailer flimmert über die Leinwand. Knapp 100 Besucher im ausverkauften Saal werden gleich zu sehen bekommen, was eigentlich Nische ist: Dokumentarfilm. Die Leipziger Cinémathèque, seit über 20 Jahren durch und durch Programmkino, entspricht genau der leidenschaftlichen Philosophie von DOK Leipzig. Außerhalb des Festivals laufen da auch Dokus. Dann eben für fünf anstatt für hundert Leute. Gut so, sagt Sven Wörner, Programmkurator bei der Cinémathèque:

    "Ich als Publikum muss bereit sein, mich mit einer Problematik auseinanderzusetzen, die mir in einem Fall auch den Abend versaut - im besten Falle mein Leben verändert, weil ich dann andere Konsequenzen ziehe."

    Hunderte von Fachbesuchern, unzählige, fiebrige Kinogänger. 346 Filme aus 57 Ländern. Und einer, der dafür verantwortlich ist: Claas Danielsen, Direktor des größten Festivals seiner Art in Europa, macht das mittlerweile zum zehnten Mal, hat im Sommer Akkordarbeit geleistet, indem er zwölf bis vierzehn Stunden am Tag Filme geschaut hat. Und sagt jetzt auch noch Sätze wie:

    "Das ist ein Film, den man einfach unbedingt sehen muss."

    Bei Danielsen ist das keine Phrase. Man glaubt es ihm. Beispielsweise, wenn er vom Eröffnungsfilm erzählt. "Master of the Universe" von Marc Bauder. Ein leeres Bankgebäude. Ein ehemaliger Investmentbanker, der einfach nur in wüsten, verlassenen Räumen steht und über die irreale Welt des Geldes spricht:

    "Die Schulterklappen sammelt man durch One-Nighter oder Two-Nighter. One-Nighter ist, wenn Sie eine Nacht im Büro schlafen. Two-Nighter ist, wenn Sie zwei Nächte im Büro schlafen, beziehungsweise durcharbeiten. Wenn Sie das dann genug gemacht haben, dann kommt irgendwann schon jemand auf die Idee, Sie mit größeren Aufgaben zu betrauen."

    Von Afrika bis Transnistrien, vom privaten Filmtagebuch bis zum aufwändigen Animationsfilm, der mal eben 600 Jahre brasilianische Geschichte abhandelt: Das Programm von DOK Leipzig ist kaum in wenige Sätze zu fassen. Das zeigt auch, so Festivaldirektor Claas Danielsen, dass Dokumentarfilm kein Nischenprodukt mehr ist.

    "Das Genre ist sehr reich, es ist sehr experimentell, bis hin auch zu Erzählweisen, die ans Fiktionale angelehnt sind und dadurch auch ein viel breiteres Publikum ansprechen."

    Der vielleicht absurdeste Film des Festivals kommt diesmal aus Finnland. Petri Luukainen hatte die Nase voll von den materiellen Dingen. Er räumte seine Wohnung in Helsinki ganz aus und befreite sich von allem Zeug. Ein ganzes Jahr lang. So steht er zu Beginn des filmischen Selbstexperiments mit dem Titel "My Stuff" komplett nackig da. Wortwörtlich.

    "Am Anfang bin ich nur nachts vor die Tür gegangen. Die ersten vier Tage war ich nur in meiner Wohnung, mein Bruder brachte mir Essen. Aber dann hatte ich irgendwann Hose und Schuhe und Jacke, und dann konnte ich rausgehen."

    "Eine der wichtigsten Eigenschaften guter Dokumentarfilme ist, dass sie uns Angst nehmen", sagte Claas Danielsen in seiner Eröffnungsrede. Ein Trost in unsicheren Zeiten. Nicht ohne Grund ist der Festivaltrailer in diesem Jahr ungewöhnlich melancholisch: Lauter Gesichter, die nicht so richtig wissen, wohin der Weg führt - die beste Zusammenfassung für die inhaltliche Tendenz des diesjährigen Programms. DOK Leipzig, das ist immer ein Spiegel der Gegenwart - und die, das zeigt das Festival auf eindrucksvolle Weise - besteht im Augenblick vor allem aus offenen Fragen:

    "Ich glaube, man spürt, wenn man diese Filme sieht, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben, dass viele Menschen sehen: Das Alte hat nicht mehr bestand - und das gilt auch für die Produktionsbedingungen für das Genre des Dokumentar- und Animationsfilms - und das Neue ist noch nicht da."