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Nackte Tatsachen - T.C. Boyle: Dr. Sex

Dass die Vereinigten Staaten von Amerika das freieste Land der Erde seien, seine Menschen bis in die Poren geprägt von den erhabenen Idealen politischer, ökonomischer, sozialer Freiheit – diese Überzeugung hat George W. Bush in der Antrittsrede zu seiner zweiten Präsidentschaft ausgiebig formuliert: 27mal taucht das Wort "Freiheit" im Text auf.

Von Joachim Scholl | 01.05.2005
    Ein knappes Jahr zuvor, im Februar 2004, wurde in den USA über dieses Wort in einem ganz anderen Zusammenhang debattiert: Während der landesweiten Fernseh-Übertragung des Football Super Bowls ließ die Sängerin Janet Jackson bei ihrem Auftritt für zwei, drei Sekunden eine blanke Brust aufblitzen. Die amerikanische Öffentlichkeit bebte. Eilig anberaumte Krisensitzungen der TV-Networks führten zum gemeinsamen Beschluss, dass fortan nationale Großereignisse nur noch mit Zeitverzögerung gesendet werden, um im Notfall jede ähnlich empörende Szene vorab tilgen zu können. Janet Jackson entschuldigte sich unter Tränen beim amerikanischen Volk. Schmunzelte da irgendwer? Höchstens die Europäer. Wenn es um nackte Tatsachen geht, versteht Amerika keinen Spaß, da hört jede Freiheit auf, die USA sind ein Land absurdester Prüderie. Daran hat auch jener berühmte Amerikaner und Wissenschaftler nichts zu ändern vermocht, den T.C. Boyle in seinem neuesten Roman porträtiert: der Zoologe Alfred C. Kinsey. Dessen Leben und Werk nur einem einzigen Ziel verpflichtet war: die Sexualität als das normalste, natürlichste menschliche Verhalten darzustellen, den Körper und seine Regungen von der moralischen Verurteilung freizusprechen, etwas "Schmutziges" zu sein. Er hätte es wohl gewagt, laut zu lachen über jenen "Nipplegate"-Skandal. Aber leider war er schon seit fünfzig Jahren tot. Bei T.C. Boyle lernen wir ihn nun kennen, im Jahr 1938, in Bloomington, Indiana, einem verschlafenen Universitäts-Städtchen des Mittelwestens, wo seine Vorlesung "Liebe und Ehe" für brechend volle Hörsäle sorgt:

    " Ich kann nicht mal annähernd den Schauer beschreiben, der durch den Saal lief, von Sitz zu Sitz, von Ellbogen zu Ellbogen, durch diese ganze hungrige Masse. Dann schwang die Seitentür auf, und Dr. Kinsey schritt zielstrebig zum Podium. Er war damals Mitte Vierzig, ein hochgewachsener Mann mit sehr großem Kopf, eigenartig schmalen Schultern und leicht gebeugter Haltung – eine Folge der Rachitis, die er als Kind gehabt hatte -, und er machte keine Bewegung zuviel und verschwendete keine Zeit. Das erwartungsvolle Gemurmel verstummte abrupt, als er ans Pult trat, den Kopf hob und den Blick auf das Auditorium richtete. Stille. Absolute Stille. "Heute werden wir uns mit der Physiologie der sexuellen Reaktion und des Orgasmus unserer Spezies befassen", begann er. "

    Allein bei diesen Worten wird dem Publikum ganz anders, und dann folgen noch Dias von männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen in diversen Phasen der Erregung - so etwas hat die Welt buchstäblich noch nicht gesehen, geschweige Bloomington, Indiana. Natürlich sind die Vorlesungen geschlossene Veranstaltungen. Nur verheirateten Paaren ist der Zutritt erlaubt, Studenten müssen mindestens verlobt sein, was einen regelrechten Spontan-Verlobungsmarkt auf dem Campus erzeugt. Auch der Erzähler sieht sich auf diese Weise unvermittelt an der Seite eines flotten Fegers namens Laura Feeney, die ihn kurzerhand auf dem Gang abgreift, weil sie die sensationelle Show nicht verpassen will. John Milk heißt der junge Auserwählte, ist Anfang zwanzig und studiert Biologie. Er ist ein hübscher Kerl, aber gehemmt und unbeholfen im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Genau aus diesem Grund hat die scharfe Laura ihn zum Quasi-Verlobten erkoren, so kommen keine Gerüchte auf, denn ein Mädchen muss in diesen Zeiten streng auf einen guten Ruf bedacht sein. Johns leise Hoffnung auf ein bisschen mehr mit Laura schwindet rasch, sie steht auf ganz andere Kerle. Dennoch bedeutet das Semester mit Kinseys Vorträgen den Wendepunkt in Johns Leben. Der Forscher wird auf ihn aufmerksam. Er sucht Mitarbeiter für sein großes, epochales Projekt: die erste wissenschaftliche Erhebung sexueller Verhaltensweisen. Und mit dem ruhigen, gemütvollen John eröffnet Professor Kinsey, "Prok", wie seine Vertrauten ihn nennen, den "inner circle", den Kreis von verschwiegenen Eingeweihten, der das später weltberühmte "Institut für Sexualforschung" begründen wird.

    " Wenn ich heute zurückdenke, würde ich nicht sagen, dass ich jemals wirklich "verklemmt" war (um eines von Proks Lieblingswörtern zu gebrauchen), aber ich gebe zu, dass ich, als ich ihn kennenlernte, ziemlich naiv war, ganz zu schweigen von hoffnungslos langweilig und konventionell. Ich weiß nicht, was er eigentlich in mir gesehen hat – oder vielleicht doch. Meine Frau Iris behauptet, ich sei auf der Uni so was wie der Schwarm aller Mädchen gewesen, allerdings war ich der letzte, der davon wusste. Ich war mit etwas gesegnet, was Iris als "gefühlvolle" Augen bezeichnet, was immer das heißen mag, und hatte einen weizenblonden Haarschopf mit Naturlocken, die sich von keiner mir bekannten Haarcreme oder Pomade bändigen ließen. Was Sex betraf, so war ich begierig, aber unerfahren und auf die übliche Weise schüchtern – unsicher und etwa so ahnungslos, wie Sie es sich nur vorstellen können. "

    Das soll sich bald radikal ändern. Denn Prok betreibt Aufklärung nicht nur auf wissenschaftliche Weise, er lebt und fordert sie in Form vollständiger sexueller Freiheit auch von seinen Mitstreitern. So wird der brave John rasch zum Manne gemacht, und zwar von Clara Kinsey, Proks attraktiver Ehefrau, die ihren Gatten und dessen Prinzipien einer "offenen Ehe" tatkräftig unterstützt. John ist selbstredend begeistert. Weniger enthusiastisch reagiert er auf die Begierde des Professors selbst, der davon überzeugt ist, dass in jedem Menschen homosexuelle Neigungen stecken, die nur durch gesellschaftliche Konventionen unterdrückt werden. Aber auch hier lässt sich John gewinnen, wie er überhaupt der Energie, dem Charisma, den revolutionären Thesen seines Chefs vollständig verfällt. John wird zum Jünger, weitere werden folgen und ebenso den Eid auf ihren Christus Prok und sein Credo ablegen, dass alles, alles Sexuelle einfach nur natürlich, gesund, in Ordnung und jederzeit auszuleben sei – für den Fortschritt, für die Wissenschaft, für eine bessere, freiere Welt. Kinseys Forschungs-Zauberwort heißt Empirie. Mittels eines anspruchsvollen, anonymisierten Interviewsystems werden Daten gesammelt, sexuelle Biographien erstellt, die jederlei intime Einzelheiten, Erfahrungen, Vorlieben, Praktiken enthalten. Es ist ein mühsames, zeitaufwändiges Verfahren. Prok träumt von 100 000 Erhebungen, quer durch alle sozialen Schichten. Am Ende kommen er und sein Team auf rund 20 000 Interviews, die als Grundlage für den legendären ersten Kinsey-Report "Das sexuelle Verhalten des Mannes" dienen. Und darin fließen auch Quellen ein, die der emsige Forscher jenseits der Befragungen auftut. Wie genau etwa geht eine männliche Ejakulation vonstatten? Spritzt es oder tröpfelt es nur? Für einen Dollar pro Schuss stehen tausend New Yorker Schlange, um für die Wissenschaft auf Film gebannt zu werden. Solche Aktionen streifen die Grenze zur Illegalität und stehen unter strengster Geheimhaltung; die Kinseyaner entwickeln sich zu Meistern der Tarnung, auch weil ihr Boss auf immer neue sexy Ideen kommt. Was passiert eigentlich konkret, wenn ein Mann mit einer Prostituierten schläft? Das muss erforscht, 'live' beobachtet werden. Die Truppe kriecht in den Kleiderschrank eines Stundenhotels.

    " Wir waren Wissenschaftler und überzeugt, dass unsere Verpflichtung zur Forschung Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben sollte. Wie andere Wissenschaftler mussten wir Feldforschung betreiben und sexuelle Akte in allen Variationen beobachten – wie hätten wir uns sonst Experten nennen dürfen? Wie konnten unsere Daten die angestrebte Gültigkeit besitzen, wenn sie nur auf dem Papier standen? Es gab keine hundert bereits vorliegenden Studien, es gab keine fünfzig – es gab nicht mal eine einzige. Wir hatten unsere Kultur geschaffen, wir hatten Kriege geführt und noch die kleinsten Dinge, die Mikroben und Atome, ergründet, und dennoch wollten die Moralapostel und Heuchler uns niederbrüllen. Sex ist schmutzig, sagten sie. Sex ist etwas Anstößiges, Privates, Obszönes, als Forschungsgegenstand ungeeignet. Nun denn. Wir standen auf, bezahlten und gingen hinaus in die Nacht, um ihnen zu beweisen, dass sie unrecht hatten. "

    Nun wird ein jeder Leser spontan fragen: Stimmt das denn wirklich? Hat es diese Szene tatsächlich gegeben? Wie viel ist frei erfunden? T.C. Boyle sagt es vorab klipp und klar: Alle "Figuren und Situationen" seien fiktiv, bis auf Alfred Kinsey, seine Frau Clara, die Fakten der wissenschaftlichen Arbeit und ihrer öffentlichen Wirkung. Das heißt aber gleichzeitig, dass dem fiktiven Rest der Erzählung gewissermaßen nicht zu trauen ist, dieser Anteil aber wiederum unsere Vorstellung der realen Persönlichkeit Kinseys prägt oder sie überhaupt erst erzeugt. Was wissen wir denn schon über diesen Mann? Kriegen wir womöglich ein völlig falsches Bild? Und mit welcher Absicht? T.C. Boyle begibt sich in das klassische Dilemma des historischen Romans: zum einen an eine gelebte Biographie und Wirklichkeit zu erinnern, aufgrund fundierter Überlieferung, zum anderen diese Kenntnisse mit eigenen Gedanken, einer neuen Interpretation so zu verknüpfen, dass beides – Realität und Fiktion – literarisch glaubwürdig ineinander übergeht. Dazu arbeitet T.C. Boyle mit einem höchst effektiven Trick. Der Roman setzt ein mit dem Datum von Alfred Kinseys Begräbnis, dem 25. August 1956. An diesem Tag beginnt John Milk mit der Niederschrift seiner Erinnerungen an Prok und alles, was ab dem Jahr 1938 passierte. Erzählzeit und erzählte Zeit liegen also relativ nahe beieinander, sind aber deutlich von unserer Gegenwart und den heutigen Auffassungen von Moral und Sexualität getrennt. John Milk schreibt in der Mentalität, mit dem Bewusstsein der 1950er Jahre. Es ist kein besonders helles Bewusstsein, das wird ganz schnell klar – und entpuppt sich zugleich als T.C. Boyles zweiter Kniff. John Milk ist ein "all American boy", wie er im Buche der Klischees steht: ehrgeizig, aber ein bisschen dumpf in der Birne, er steht auf Sport und Autos, trinkt gern einen und wird bei jedem nackten Frauenbein scharf wie Nachbars Lumpi. Und ist ein Paradebeispiel für männliche Doppelmoral, die den soliden Familien-Traum vom trauten Heim problemlos mit geilen Seitensprüngen kombiniert. So großartig John es nämlich findet, die Ehefrau des Professors mauseln zu dürfen, so ratlos begegnet er der Eifersucht seiner Freundin und späteren Frau Iris, die natürlich ausflippt, als sie von diesen Rendezvous erfährt: "Aber Liebes, das gehört doch mit zum Projekt, zur Befreiung und so..." würde er gern beschwichtigen, aber das bringt er gar nicht über die Lippen, sondern blendet solche Widersprüche verlegen achselzuckend aus. Das führt zu beachtlichen Leerstellen im Text, als Konsequenz der Ich-Perspektive, die Boyle bislang nur selten anwendete. Was dem Erzähler in seiner bisweilen bestürzend beschränkten Reflexionskraft zwar durchaus dämmert, kann er nicht in Worte fassen, er drückt sich davor und lässt es einfach weg. Als Leser fasst man sich zwischendurch an den Kopf, und man ist regelrecht erleichtert, wenn wenigstens Iris reagiert und es ihrem Göttergatten tüchtig heimzahlt. Mit einem von Johns Kollegen etwa, dem tollen Purvis Corcoran, Professor Kinseys zweiter Akquisition für das Sexforscher-Team. Iris verguckt sich in den gutaussehenden, sexuell hyperaktiven Purvis – und so geschieht es, dass John eines Abends seine Frau vermisst. Dann fährt ein Auto vor, Iris steigt aus, stellt sich an den Herd und serviert John den Schock seines Lebens.

    "War das sein Wagen?" Sie nickte. "Tja", sage ich. "Und? Hat er dich nach Hause gebracht, habt ihr unterwegs noch irgendwas getrunken oder was?" "Nein", sagte sie, und ihr Blick wich dem meinen aus. "Oder vielmehr ja, er hat mich nach Hause gebracht." Ich zuckte die Schultern. Er hatte sie nach Hause gebracht. Fall erledigt. Sie hatte noch immer den Topf mit den Erbsen in der Hand, stand noch immer neben dem Tisch. "Aber ich werde dich nicht anlügen, John, keiner von uns wird das tun... wir... wir hatten eine Beziehung." Ich starrte sie nur an. "Im Büro. Auf dem Schreibtisch." "Im Büro", wiederholte ich. "Purvis und ich." Ihre Augen blickten mit einem Mal kalt. "Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste." Der Topf stand endlich auf dem Tisch, und sie wischte sich die zitternden Hände an der Schürze ab. "Du weißt ja, John", sagte sie, "das menschliche Säugetier."

    Gut gegeben, nicht wahr? Aber hilft diese Lektion? Das erfahren wir leider nicht, weil John ja nicht in der Lage ist, vernünftig darüber nachzudenken. Sonst käme er vielleicht auf den Gedanken, dass in Kinseys Konstruktion von sexueller Freiheit etwas Grundsätzliches nicht stimmt. Es fehlt darin der Mensch als liebende Seele und soziales Wesen. Für Prok ist Sexualität ein rein animalischer Instinkt. Eifersucht, Treue, Verlustangst bilden seiner Vorstellung nach lediglich die Korsettstangen einer gesellschaftlich oktroyierten Spießermoral, die es zu zerbrechen gilt. In diesem Kampf entwickelt er sich zum Despoten, er duldet keinerlei Kritik, fordert bedingungslose Gefolgschaft. Zwar zeigt er sich in seinem "inner circle" als zärtlich-aufmerksamer Freund und Kamerad, doch immer nur solange alle nach seiner Pfeife tanzen. John unterwirft sich rückhaltlos dieser Tyrannei. Wie geht er mit Iris' Geständnis um? Heulend läuft er zum Professor, der rigoros die Mini-Affäre beendet, weil er sein Projekt gefährdet sieht; Unruhe in den eigenen Linien kann er nicht brauchen. Der Friede, der nun einkehrt, ist jedoch trügerisch, die verbitterte Iris wird zur Keimzelle des Widerstands. Dann allerdings kommt der Weltruhm. 1948 erscheint "Das sexuelle Verhalten des Mannes", 804 Seiten stark, die ersten 25 000 Exemplare gehen binnen weniger Tage über die Ladentische. Mit angehaltenem Atem lesen die Amerikaner, dass sie verlogene Puritaner sind, die alles praktizieren, was ihnen Religion und Gesetzbuch verbieten: Oraler und analer Sex, vor- und außerehelicher sowie homosexueller Geschlechtsverkehr, exzessive Masturbation und Sodomie – nichts fehlt in der Statistik. Die Zeitungen sprechen von einer "sozialen Atombombe", das konvervativ-klerikale Amerika schäumt, doch schockierende 60 Prozent der Bevölkerung finden laut einer Gallup-Umfrage den Kinsey-Report "eine gute Sache." Der Verfasser und seine Helfer werden zu nationalen Stars, die Medien reißen sich um sie; wo Prok und Co. auftauchen, strömen die Massen zusammen. Solche Popularität verwandelt auch die Verhältnisse im beschaulichen Bloomington. Auch die skeptische Iris ist stolz auf ihren John und den Rummel, den er ja schließlich mitentfacht hat. Nun scheint auch sie weichgeklopft. Gibt der Erfolg dem Professor und seinen Ansichten nicht doch recht? Die Antwort erfolgt drastisch, als Prok seine Getreuen nebst Ehefrauen zu einer Party in sein Haus bittet. Ein Zimmer ist extra hergerichtet, Kameras sind aufgebaut. Der Gastgeber hält eine feierliche Ansprache: Wir sind die Avantgarde. Wir sind eine große Familie. Und nun runter mit den Kleidern. Freudig erregt präsentiert Dr. Sex sein Gemächt – und nähert sich John und Iris:

    ""Nun, Milk, sagte er, "bist du jetzt soweit? Du und deine Frau?" Ich sagte nichts. Ich konnte Iris nicht ansehen. "Du wirst mir doch nicht verklemmt werden, oder, Milk? Iris?" Und da sprach Iris das erste Wort, seit sie den Raum betreten hatte. Sie sagte nur ein einziges Wort, und es traf mich mitten ins Herz. Sie sagte: "Purvis." "Wie war das?" fragte Prok leise und lauernd. Sie wandte den Kopf ab. "Ich tue es mit Corcoran". Es entstand eine lange Pause. Dann senkte Prok seine Stimme zu einem Flüstern und sagte: "Nein, nicht mit Purvis. Mit mir." Ich sehe noch seine Beine, seine harten, geäderten Beine, als er sich erhob und an ihrem Handgelenk zog, bis sie ebenfalls stand, die Brüste, der ganze Körper entblößt, und wie sie den Arm zurückzog und sagte: "Lieber würde ich sterben", und dann war ich in Bewegung, und es war wie ein Ringkampf, wie auf dem Footballfeld. Ich weiß nicht, was über mich kam – oder doch, ich weiß es -, aber Prok lag mitten im Raum auf dem Rücken, und alle sprangen auf, und Iris bückte sich nach ihren Kleidern und rannte hinaus. "

    Es ist eine gespenstische Szene, der – wenn man so will – vielfach hinausgezögerte 'Höhepunkt' des Romans, auf dem sich T.C. Boyles herausragendes Talent für die Groteske bewährt. Schon in seinem letzten Roman "Drop City" hat er die sozialen Utopien von Liebe und Sexualität im Bild einer Hippie-Kommune ad absurdum geführt. Thematisch sind diese Romane miteinander verwandt, doch deutlich verschieden im Stil. Sein unentschlossener Erzähler John Milk legt dem Autor eine Fessel an, die ordentlich hemmt, was einen Boyle-Fan sonst entzückt: die mitreißenden Schilderungen von Charakteren und Begebenheiten, die ausgeklügelte Dramaturgie zwischen Aktion und Gefühl, der beinharte Humor. All das kann der aktuelle Erzähler nicht recht leisten, es ist Johns Mittelmaß, im Denken und Handeln, das den Roman bisweilen enervierend lethargisch macht und seine Stärken schwächt. Man muss sich immer wieder daran erinnern, dass dieser Geist der Erzählung tief in den 50er Jahren verankert ist. Die Erlebnisse gehen John Milk einfach über den Verstand. Dennoch bleibt genug T.C. Boyle übrig, um immer wieder Dramatik und Spannung zu liefern. Dafür sorgt schon der biographische Modus, die Geschichte des Kinsey-Reports ist einfach aufregend, und Boyle nutzt souverän die zahlreichen historischen Details. Doch um wie vieles gewaltiger konnte der Romancier andernorts und zu anderen Zeiten agieren, etwa in den Büchern "Riven Rock", "Der Freund der Erde" oder in "América", einem der besten und härtesten amerikanischen Romane des letzten Jahrzehnts. Das sind die hohen Messlatten, die "Dr. Sex" nur in Ansätzen erreicht. Mit Iris zum Beispiel. Sie ist wirklich stark und setzt die Reihe großartiger Frauengestalten fort, die Boyles Werk durchziehen. An jenem Tag von Proks Beerdigung sitzt John melancholisch in seinem Arbeitszimmer, er säuft und notiert die ersten Sätze. Herein rauscht Iris, in Hut und Schleier, sie überblickt die Szene und fährt ihren Mann wütend an: "Er war nicht der liebe Gott, verstehst du?" Aber nein. Das kann John immer noch nicht begreifen.

    T.C.Boyle: Dr. Sex. Roman.
    Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.
    Verlag Carl Hanser München.
    472 Seiten. 24,90 Euro