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Nadeschda Mandelstam: "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe"
Vom Verderber der Seelen und Bauernabschlachter

Ossip Mandelstam gilt als Märtyrer der Poesie. Die „Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“ seiner Frau Nadeshda erzählen von einer Epoche der Angst, von Verbannung, Flucht und Tod. Und sie lehren mehr über den Terror, aber auch mehr über Solidarität als jedes andere Buch ihrer Zeit.

Von Tobias Lehmkuhl | 18.10.2020
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Nadeschda Mandelstam's großes Memoirenwerk über den allumfassenden stalinistischen Terror „Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“ (Die Andere Bibliothek)
Kann man sich einen besseren Auftakt für ein Buch wünschen?
"Nachdem er Alexej Tolstoy geohrfeigt hatte, kehrte O.M. eilends nach Moskau zurück."
So lautet der erste Satz der "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe" von Nadeschda Mandelstam. Man denkt an große russische Romane des 19. Jahrhunderts, an Eifersuchtsdramen und tödliche Duelle. Vor allem aber fragt man sich: Warum ohrfeigt der Dichter Ossip Mandelstam den Romancier Alexej Tolstoy? Und wieso steht dieser Satz am Anfang der Erinnerungen der Witwe Mandelstams?
Zumindest die erste Frage ließ die Erstübersetzung der "Erinnerungen" unbeantwortet. Sie verzichtete auf jegliche Anmerkungen, wohingegen die Neuübersetzung fast 200 Seiten Erläuterungen enthält. Und selbstverständlich wird darin als Erstes dargestellt, warum Mandelstam Tolstoy ohrfeigte.
Tolstoy nämlich war Vorsitzender des vom Schriftstellerverband eingesetzten Schiedsgerichts, das in der sogenannten Sargidjan-Affäre urteilen sollte. Besagter Sargidjan war der Nachbar der Mandelstams im Moskauer Schriftstellerhaus und vermutlich ein Spitzel, der über das Ehepaar Bericht erstattete. Doch nicht aufgrund seiner Spitzeltätigkeit, sondern wegen einer Geldschuld kam es zum Streit zwischen den Nachbarn, in dessen Verlauf Sargidjan Nadeshda Mandelstam gegenüber tätlich wurde. Das Schiedsgericht aber verurteilte beide Seiten. Und der empörte Ossip Mandelstam ohrfeigte daraufhin mit Tolstoy den Vorsitzenden des Schiedsgerichts.
Stalins Science Fiction
Auch bei der Beantwortung der zweiten Frage, warum gerade dieser Satz die Erinnerungen Nadeshda Mandelstams eröffnet, hilft ein Blick in die Anmerkungen der Neuübersetzung. Denn wer weiß heute schon, wer Alexej Tolstoy war? Die Kurzbiografie klärt darüber auf, dass es sich um den Lieblingsautor von Josef Stalin handelte.
Nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch war im Jahr 1934 also kein größerer Gegensatz denkbar: Hier der eigenwillige, sprachmächtige Poet, der feinsinnige Autor von Essays und kleinen Prosawerken, dessen letzte Publikation 1932 den zuständigen Redakteur seinen Posten kostete, dort der gleich dreimal mit dem Stalinpreis ausgezeichnete Autor von Science Fiction-Romanen.
Der Einstiegssatz der "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe" also markiert den Grundkonflikt des Buches: künstlerische Souveränität auf der einen Seite, politisches Diktat auf der anderen. Der Grund aber, warum Ossip Mandelstam kurz nach der Ohrfeige verhaftet wurde, war ein anderer - weniger handfest, dafür umso schlagender: Sein "Epigramm gegen Stalin". Statt einen Stellvertreterkampf mit Funktionären und so willfährigen wie mediokren Schriftstellerkollegen auszufechten, zielt dieses Gedicht direkt ins Zentrum der Macht.
"Und wir leben, doch die Füße, sie spüren keinen Grund,
Auf zehn Schritte nicht mehr hörbar, was er spricht, unser Mund,
Nur zu hören vom Bergmenschen im Kreml, dem Knechter,
Vom Verderber der Seelen und Bauernabschlächter.
Seine Finger wie Maden so fett und so grau,
Seine Worte wie Zentnergewichte genau.
Lacht sein Schnauzbart dann - wie Küchenschaben,
Und sein Stiefelschaft glänzt hocherhaben.
Um ihn her - seine Führer, die schmalhalsige Brut,
Mit den Diensten von Halbmenschen spielt er, mit Blut.
Einer pfeift, der miaut, jener jammert,
Doch nur er gibt den Ton an - mit dem Hammer.
Und er schmiedet, der Hufschmied, Befehl um Befehl -
In den Leib, in die Stirn, dem ins Auge fidel.
Jede Hinrichtung schmeckt ihm - wie Beeren,
Diesem Breitbrust Osseten zu Ehren."
Undatierte Aufnahme des sowjetischen Diktators Josef Stalin.
Undatierte Aufnahme des sowjetischen Diktators Josef Stalin. (picture-alliance / dpa)
Selbstverständlich wurde das "Epigramm gegen Stalin", dieses bittere Spottgedicht, seinerzeit nicht veröffentlicht. Mandelstam las es lediglich einigen Freunden vor. Einer von diesen Freunden allerdings muss ein Verräter gewesen sein, denn als in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1934 drei Tschekisten bei Mandelstams in der Tür standen, wussten die Männer genau, wonach sie suchten. Es wurde das Unterste zuoberst gekehrt. Stundenlang sichteten sie sämtliche Manuskripte, die in der Wohnung zu finden waren und nahmen am frühen Morgen neben ihrem Autor mit, was ihnen abgesehen vom fraglichen Epigramm für eine Anklage brauchbar schien.
Beschreibung und Reflexion
Was ihnen dabei entgangen war: Sie ließen eine Prosaautorin zurück, die nicht minder groß und bedeutend war als ihr Mann.
In ihren Erinnerungen, die sie Mitte der 1960er-Jahre schrieb, legt Nadeshda Mandelstam nicht nur von jenem Abend Zeugnis ab, sondern von einer ganzen Epoche. Und sie tut dies mit einem solchen Formwillen, einer so beweglichen Sprache, dass sie als Künstlerin ganz eigenen Rechts gelten muss.
Zwar war Ossip Mandelstam allem Mystizismus abhold, nach seinem Tod wurde er dennoch selbst zu einer mythischen Dichterpersona, einer solch heiligen Märtyrergestalt, dass die künstlerische Eigenständigkeit seiner Frau leicht in den Hintergrund tritt. Dabei ist Nadeschda weit mehr als bloß eine Zeugin. Allein wie es ihr gelingt, diesen einen, initialen und entscheidenden Abend immer wieder erzählerisch anzusteuern, um sich bald von ihm zu entfernen, wie sie es überhaupt über die sechshundert Seiten ihrer Erinnerungen hinweg ein ums andere Mal schafft, von konkreten Ereignissen und Beobachtungen aus die historischen Umstände anschaulich zu machen und dabei von der beschreibenden auf die reflexive Ebene zu wechseln, ist ganz enorm. Die Sachlichkeit ihres Tons, in den sich nicht selten eine Spur Ironie mischt, stellt sie überdies in eine Tradition mit Anton Çechov und Nikolai Gogol.
"Einmal sah ich eine Frau, deren Sohn verhaftet worden war, versehentlich anstelle des Nachbarn, der den gleichen Familiennamen hatte und zur Zeit der Verhaftung zufällig nicht zu Hause war. Der Frau war es gelungen, an irgendeiner Stelle vorzusprechen und den Beweis zu führen, dass im Haftbefehl, aufgrund dessen ihr Sohn festgenommen worden war, Name und Vatersname des Nachbarn aufgeführt waren. Allein dafür hatte sie Berge versetzen müssen, und es war ihr gelungen. Die Entlassung ihres Sohnes war bereits angeordnet, und da stellte sich plötzlich heraus, dass der Sohn nicht mehr am Leben war. Ein wahnwitziger Zufall hatte ihn umgebracht, und durch Zufall konnte der Nachbar fliehen und überlebte. Die Frau weinte und jammerte - diese Szene spielte sich in der Staatsanwaltschaft ab -, als sie vom Tod ihres versehentlich verhafteten Sohnes erfuhr. Der zuständige Beamte trat aus seinem Schalter heraus und schrie sie an, mit der gleichen gespielten Wut, mit der der Milizionär mich angeschrieben hatte. Sein Schreien war erzieherische Maßnahme - wie soll man seine verantwortungsvolle Aufgabe als Beamter der Staatsanwaltschaft verrichten, wenn man keine Ruhe hatte?"
Utopische Träume von Andrej PlatonowIn der UdSSR konnten Andrej Platonows Hauptwerke erst während der Perestroika erscheinen. Da waren Bücher wie "Dshan" und "Die glückliche Moskwa" schon 50 Jahre alt und ihr Autor lange tot. Heute gilt er bei uns als visionärer Klassiker des 20.Jahrhunderts.
Psychisch lädierte Gesellschaft
Nadeshda Mandelstams Erinnerungen sind nicht nur ein erzählerisches Meisterstück, sie sind auch ein wichtiges historisches Zeugnis. Kein anderes Werk der russischen Literatur jener Zeit hat die Jahre des Großen Terrors und die Art und Weise, wie ein nahezu perfektes System der Unterdrückung geschaffen wurde, derart minutiös dargestellt.
Schon 1918 riefen die Bolschewiki den Roten Terror aus. Verfolgt wurde nicht mehr jener, der eine individuelle Schuld auf sich geladen hatte, verfolgt wurde man wegen der Zugehörigkeit zu einer Klasse. Herkunft und Beruf konnten über Leben und Tod entscheiden. Ende 1934 aber erreichte der Terror eine neue Qualität. Jetzt wurden Abweichler jeder Art verhaftet und ermordet. Seinen Höhepunkt aber erreichte der Terror in den Jahren 1937 und 1938 als Polizei und Tscheka ein Plansoll zu erfüllen hatten. Es konnte nun jeden treffen. Der Terror machte selbst vor eben noch mächtigen Funktionären wie dem Chefredakteur der "Istwestija" oder den Chefs der Geheimdienste nicht Halt.
Ein solches System befördert vor allem das Denunziantentum, und Mandelstams Erinnerungen machen immer wieder deutlich, wie sehr die Angst, verraten zu werden, die sowjetische Gesellschaft durchdrungen hatte.
"Im Zusammenhang mit den Vorladungen entwickelten die Menschen zweierlei Krankheiten: Die einen sahen in jedem anderen einen Denunzianten, die anderen fürchteten, sie könnten für einen solchen gehalten werden. Vor nicht allzu langer Zeit, klagte ein Dichter mir, er habe ja gar keine Gedichte von O.M. Ich bot ihm eine Abschrift an, und daraufhin geriet er in Panik, ich könne glauben, er schwatze mir diese Kopie für die Lubjanka ab! Ein Leben wie dieses geht nicht spurlos vorüber. Wir alle sind psychisch lädiert, leicht neben der Norm, nicht krank, aber auch nicht ganz gesund - argwöhnisch, in Lügen verstrickt, verwirrt, mit augenfälligen Verzögerungen in unserer Sprache und einem verdächtigen unreifen Optimismus. Sind Menschen wie wir als Zeugen geeignet? Zum Programm der Vernichtung gehörte ja auch die Vernichtung der Zeugen."
Ossip Mandelstam wurde nicht umgehend vernichtet. Für seine Person lautete die zynische Anweisung: "Isolieren, aber erhalten". Er wurde aus Moskau verbannt und musste sich in mindestens hundert Kilometern Entfernung von der Hauptstadt und einer Reihe anderer großer Städte einen Ort suchen, an den er gehen wollte. Seine Wahl fiel auf Woronesch, weil der Vater eines Bekannten Gefängnisarzt in Woronesch war, und wer weiß, so Ossip zu Nadeschda, vielleicht brauchen wir ja bald einen Gefängnisarzt. Denn seine Frau begleitete ihn in die Verbannung, teilte mit ihm das schwere Los.
Winter in Woronesch
Viel erfährt man in ihren "Erinnerungen" über die dürftigen Lebensumstände jener zahllosen Verbannten, denen niemand eine Arbeit gab, weil man sich selbst in Gefahr brachte, verkehrte man mit ihnen. Ohne eigene Einkünfte waren Mandelstams darauf angewiesen, dass ihnen Freunde immer wieder Geld liehen, das hieß: überließen, denn an eine Rückzahlung war nicht zu denken. Auch eine Unterkunft zu finden war überaus schwierig, denn tausende Verbannte suchten ebenfalls eine Bleibe. Häufig wechselten die Mandelstams in den drei Jahren der Verbannung den Unterschlupf, meist nicht mehr als ein halbes Zimmer mit einem windschiefen Dach. Im Winter war Woronesch zudem eine einzige Eisfläche. Anna Achmatowa, die ihre Freunde in Woronesch besuchte (und auch am Abend der Verhaftung zugegen gewesen war) schrieb ein Gedicht über dieses frostige Woronescher Exil:
"Und diese Stadt ist ganz aus Eis erstarrt.
Wie unter Glas ruhn Bäume, Forste, Schnee.
Unsicher ist des bunten Schlitten Fahrt.
Trägt der Kristall, auf dem ich zögernd geh.
Und in des Verbannten Dichters Zimmer
Stehn wechselnd Angst und Muse ihre Wacht.
Nun kommt die Nacht,
Und einen neuen Morgen kennt sie nimmer."
Gleich zu Beginn seines Exils unternimmt Ossip Mandelstam einen Selbstmordversuch. Die panische Angst, doch noch erschossen zu werden, hat eine Krankheit, so nennt es seine Frau, bei ihm ausgelöst. Eine temporäre Psychose offenbar. Nach einer Weile hat er sich so weit wie möglich mit den Umständen arrangiert und erneut zu dichten begonnen. Die sogenannten "Woronescher Hefte" entstehen. Sie entstehen auch deswegen, weil die Mandelstams, obwohl sie von vielen verlassen wurden, noch ein paar gute Freunde haben, die ihnen helfen und beistehen, allen voran Anna Achmatowa, die auch nach dem Tod Ossips weiterhin Nadeschdas engste Vertraute bleiben wird. Eine wichtige Rolle spielt zudem das Ehepaar Schklowskij.
Viktor Schklowskij war ebenfalls Schriftsteller, schrieb Biographien, arbeitete für den Film, und schaffte es, obwohl er als Sozialdemokrat einst gegen die Bolschewiki gekämpft hatte, niemals verhaftet und ins Lager gesteckt zu werden - und obwohl er Mandelstams stets half und ihre Anlaufstelle war, als sie für kurze Zeit wieder die Möglichkeit hatten, sich zumindest tagsüber in Moskau aufzuhalten. Wie schwer es für die Mandelstam gewesen sein muss, aus dem Netz ihrer Moskauer Beziehungen gerissen zu werden, zeigt schon das neunseitige Personenverzeichnis der Erinnerungen. Mandelstams kannten einfach jeden, der in Politik, Kultur und Medien in der Sowjetunion der zwanziger und dreißiger Jahre eine Rolle spielte. So stellen die Erinnerungen auch eine Kulturgeschichte Russlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar.
Nebenbei erfährt man in ihnen eine Menge darüber, wie Ossip Mandelstam arbeitete und was er las. Während seiner Reise nach Armenien in den Jahren 1932/33 offenbar sehr viel deutsche Literatur.
Undatierte schwarz-weiss- Aufnahme der russischen Dichterin Anna Andrejewna Achmatowa mit Mann und Sohn.
Klapper des Aussätzigen singt in ihrer HandNadeschda Mandelstam und die Dichterin Anna Achmatowa verband eine unerschütterliche Freundschaft. In ihren Erinnerungen schildert sie Annas Leben, dieser bedeutensten Lyrikerin des "silbernen Zeitalters".
Die deutsche Übersetzertradition
"In Armenien kehrte O.M. zu den deutschen Dichtern zurück und kaufte viele Bücher von Goethe, den Romantikern - Bürger, Lenau, Eichendorff, die beiden Kleists, Herder und so weiter und so weiter. Auch Klopstock erstand er, denn dieser klinge, so sagte er, wie eine Orgel. Darüber hinaus kamen Mörike und Hölderlin dazu, und O.M. machte noch das eine oder andere der mittelhochdeutschen Dichtung ausfindig. Auch ziemlich viele Bücher lateinischer Dichter sammelten sich an - Ovid, Horaz, Tibull, Catull, fast alle in zweisprachigen Ausgaben mit deutscher Übersetzung, denn die Deutschen sind als Übersetzer genauer als die Franzosen."
Und Ursula Kellers neue Übersetzung der "Erinnerungen", das steht fest, ist genauer als die alte Übersetzung von Elisabeth Mahler. So heißt es in der alten Übersetzung, der Staatsanwalt selbst würde hinter seinem Schalter hervorkommen, um die verzweifelt weinende Mutter anzubrüllen. Es kann aber nur, wie in der neuen Übersetzung ein "Beamter der Staatsanwaltschaft" sein, der das tut, denn Staatsanwälte hatten damals anderes zu tun, als hinter Schaltern zu stehen und den Publikumsverkehr abzuwickeln. Alles in allem ist die neue Übersetzung weitaus präziser und schlackenloser. Von unschätzbarem Vorteil aber ist in der Tat der Anmerkungsapparat, der geradezu ein Buch im Buch darstellt.
Auch wenn man das denken könnte, sind die "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe" kein Buch über Ossip Mandelstam. Gewiss, ohne seine Gedichte und ohne seine Geschichte, gäbe es dieses Buch nicht. Aber die Person Ossip Mandelstam taucht nur sporadisch in ihm auf. Seine Frau hat kein Interesse, ein Porträt ihres Mannes zu zeichnen. Zweifellos, soviel lässt sich aus der Lektüre schließen, war er ein liebenswerter, äußerst humorvoller und extrem sensibler und zugleich eigenwilliger Mann. Nadeschda aber ging es in der Tat um ein Porträt der Zeit, einer Zeit, in der niemand seinem Nächsten trauen konnte, und in der das Vorfahren eines Automobils den Blutdruck in die Höhe schnellen ließ.
"Mitunter aber blieb uns nichts anderes übrig, als bei den Schklowskijs zu übernachten. Dann wurden für uns im Schlafzimmer ein Bettsack und ein Schaffell auf den Boden gelegt. Im sechsten Stockwerk hört man natürlich nicht, wenn vor dem Haus ein Automobil vorfährt, aber immer, wenn sich nachts der Fahrstuhl in Bewegung setzte, eilten wir alle vier in den Flur, um zu horchen. »Gott sei Dank, er hält ein Stockwerk tiefer«, oder »Gott sei Dank, er fährt nach oben weiter.« In den Jahren des Terrors gab es kein Haus, dessen Bewohner nicht zitternd dem Rauschen der vorbeifahrenden Automobile oder dem Lärmen des Fahrstuhls lauschten. Bis heute jagt mir, wenn ich bei den Schklowskijs übernachte, ein Schaudern über den Rücken, wenn ich in der Nacht den Fahrstuhl höre. Dieses Bild – erstarrte, halb angekleidete Menschen, die an der Eingangstür der Wohnung stehen und sich horchend zu ihr hinbeugen, damit sie hören, wo der Fahrstuhl anhält – ist unvergesslich."
Such das Weite
Ossip Mandelstam sprach von den drei Jahren im Exil als vom "Wunder von Woronesch". Ihm war klar, dass diese Zeit nur einen Aufschub bedeutete. Zwar versuchte er das Schicksal mit einem Loblied auf Stalin noch zu beeinflussen, aber da war es zu spät. Wenige Monate nach seiner Rückkehr aus Woronesch wurde er erneut verhaftet; ein halbes Jahr später starb er in einem Durchgangslager auf dem Weg ins die Kolymaregion. Im ersten Band von Warlam Schalamows Erzählungen aus Kolyma gibt es eine eindringliche Geschichte, die die Sterbestunden Mandelstams imaginiert. Schalamow kam ein Jahr nach dem Dichter an die Kolyma und verbrachte unfassbare fünfzehn Jahre im GULag. Seine Erzählungen stehen gleichbedeutend neben den Erinnerungen Nadeschda Mandelstams.
Ihr war ein anderes Schicksal beschieden, kein sibirisches, aber ein äußerst unstetes. Im Grunde flüchtete sie die ersten zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes von Ort zu Ort, schlug sich zeitweilig gemeinsam mit ihrer Freundin Anna Achmatowa irgendwie durch, und entging mehrmals nur knapp nur Verhaftung. Am Ende eben war die sowjetische Bürokratie doch träge und nicht in der Lage, die Solidarität unter den Menschen gänzlich auszulöschen, wie eine Episode aus späteren Jahren, als sie in einer Textilfabrik in der Provinz arbeitet und zwei Männer aus der Kaderabteilung sie verhören, verdeutlicht.
"In jener Nacht ließen sie mich gehen, weil sich auf dem Hof eine große Gruppe versammelt hatte. Ich kehrte nicht zu meiner Arbeit zurück, sondern ging geradewegs nach Hause. Nach Ende der Nachtschicht kamen die Arbeiterinnen und Arbeiter einer nach dem anderen zu unserem Haus. Durchs Fenster sagten sie: "Such das Weite", und legten etwas Geld auf die Fensterbank. Die Zimmerwirtin packte meine Habseligkeiten zusammen und ihr Mann begleitete mich mit zwei Nachbarn auf einen der ersten Züge. So entging ich der Katastrophe dank der Hilfsbereitschaft der Menschen, die noch nicht gelernt hatten, gleichgültig zu sein."
Lebensfülle, Lebensintensität, schreibt Nadeschda Mandelstam, scheinen ihr konkretere Begriffe als das berühmt-berüchtigte Glück. Im Zusammenhang dieser Autobiographie bekommt diese Einschätzung noch zusätzliches Gewicht. Die Erinnerungen lehren uns nicht nur viel über die Gräuel und Abgründe der menschlichen Existenz. Sie lehren vor allem auch dies: Haltung.
Nadeschda Mandelstam: "Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe".
Aus dem Russischen von Ursula Keller, Die Andere Bibliothek, Berlin. 792 Seiten, 44 Euro.