Archiv

Naher Osten
"Einige Grenzen lösen sich auf"

Die Grenze zwischen dem Irak und Syrien verschwinde zunehmend, sagte Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, im DLF. Dafür würden die kurdischen Gebiete im Irak immer mehr zu einem eigenen Staat. Ein großes Problem des Iraks sei Ministerpräsident Nuri al-Maliki.

Volker Perthes im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 26.07.2014
    Der deutsche Politologe Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik
    Der Politologe Volker Perthes (picture-alliance/ ZB/ Jan Woitas)
    Was nicht mehr funktionieren werde, seien zentralistische Staaten, sagte Perthes. Er sagte weiter, der irakische Präsident Nuri al-Maliki "ist ein ganz großes Problem." Sein Rücktritt wäre ein Schritt zur Lösung.
    Es sei zudem zu einfach zu sagen, es gebe die Sunniten, die Schiiten und die Kurden im Irak und die seien in einem ewigen Konflikt miteinander. Im irakischen Parlament sind Perthes zufolge vor allem die Menschen vertreten, die Interesse daran haben, den Irak als Nationalstaat zu erhalten.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Guten Morgen, Herr Perthes!
    Volker Perthes: Schönen guten Morgen!
    Zurheide: Welche Zukunft hat der Irak eigentlich bei den unterschiedlichen Volksgruppen – die Kurden auf der einen Seite, Sunniten, Schiiten und dann noch ISIS – ist das eine vierte Gruppe, oder wie müssen wir das einordnen?
    Perthes: ISIS ist eine politische, politisch-konfessionalistische Gruppe, die aus Sunniten besteht. Aber ich glaube, es ist ein bisschen zu einfach zu sagen, es gibt die Sunniten, es gibt die Schiiten und die Kurden, und die sind im ewigen Konflikt miteinander. Das Parlament hat einen Präsidenten gewählt. Im Parlament sind, auch da gibt es Ausnahmen, aber überwiegend die Menschen vertreten, die ein Interesse daran haben, den Irak als Nationalstaat zu erhalten, und da gibt es politische Konflikte, dann setzen sie sich miteinander auseinander. Aber sie wissen auch, sie haben ein gemeinsames Ziel, nämlich den Irak, den zu verwalten, zu regieren.
    Es gibt viele säkulare Iraker bei den Schiiten, bei den Sunniten, bei den Kurden ohnehin, die sich von der konfessionalistisch orientierten Politik des Ministerpräsidenten ausgeschlossen fühlen. Und es gibt viele Sunniten, insbesondere in den ländlichen Gebieten und in den Städten außerhalb der Hauptstadt, die sich von der Regierung marginalisiert fühlen, von der Regierung Maliki, der ein Schiit ist, marginalisiert fühlen. Und in diesem etwas komplizierten Koordinatensystem sehen wir die Auseinandersetzungen der letzten Monate. Eine politische Auseinandersetzung im Parlament, eine Unabhängigkeitsbewegung in Kurdistan, die an Kraft gewinnt, und ein Aufstand in den sunnitischen Gebieten, wo man sich so stark marginalisiert, ausgeschlossen fühlt, dass eine terroristische Gruppe wie die ISIS es schafft, Bündnisse zu bilden mit anderen Gruppen, mit ehemaligen Anhängern Saddam Husseins, mit Stammesführern, und dann in relativ kurzer Zeit große Gebiete des Irak zu übernehmen.
    "Eine sehr autoritäre Herrschaftsausübung"
    Zurheide: Wenn ich jetzt aufnehme, was Sie uns gerade erklärt haben, sagen Sie, es gibt im Parlament diese Kräfte, die die Einheit des Iraks erhalten wollen, obwohl es schwierig ist. Dagegen steht aber ein Stück weit Ministerpräsident Maliki, der das eher konfessionell macht und damit nur seine Gruppe begünstigt und die anderen ja nicht begünstigt. Ist er am Ende das Problem, und, wie die Amerikaner sagen, wenn er weg wäre, wäre da vieles einfacher? Oder ist das zu einfach?
    Perthes: Er ist ein ganz großes Problem oder Teil des Problems, das sehen mittlerweile nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Iraner, die ihn ja auch über viele Jahre zusammen mit den Amerikanern unterstützt haben – eine der wenigen Fragen, wo Amerikaner und Iraker sich einig waren, dass sie gedacht haben, sie brauchen einen starken Ministerpräsidenten, und das ist am ehesten Herr Maliki. Aber er hat eben seine Stärke genutzt zu einer sehr autoritären Herrschaftsausübung, wo er sich vor allem auf eine kleine Gruppe von Getreuen gestützt hat. Und das waren seine eigenen Leute, aus seiner eigenen Konfessionsgemeinschaft. Und seine Reaktion auf den Aufstand in den sunnitischen Gebieten war eben auch eine klassisch autoritäre, konfessionalistische. Er hat gesagt, na ja, dann mobilisieren wir halt schiitische Milizen gegen diesen Aufstand in den sunnitischen Gebieten, während sowohl die Amerikaner als auch zunehmend die Iraner ihm raten, zu sagen, das Gegenteil ist richtig, du musst versuchen, eine inklusive Regierung zu bilden. Und nur das wäre tatsächlich ein Teil der Lösung. Maliki weg wäre vielleicht ein Schritt dahin. Aber das heißt noch nicht, dass dann nur liberale und inklusive und demokratische Politiker an der Macht wären.
    "Was nicht mehr funktionieren wird, sind zentralistische Staaten"
    Zurheide: Sehen Sie denn überhaupt eine Chance, dass die Hoffnung, die manch einer im Irak hat, die Sie uns geschildert haben, auf Einheit, dass diese Einheit bestehen kann, oder sind die ganzen Staaten, die wir da im Moment beobachten – wenn wir den Fokus aufziehen, haben wir ja nicht nur den Irak, wir haben auch die Probleme in Syrien und anderswo –, dass die Grenzen, die willkürlich am Ende durch die Kolonialmächte gezogen worden sind, dass die überhaupt tragen?
    Perthes: Also einige der Grenzen, das sagen Sie ganz richtig, lösen sich, wie es scheint, auf. Das ist die Grenze zwischen Syrien und Irak. Dafür bilden sich andere Grenzen. Die kurdischen Gebiete im Irak werden immer mehr, de facto jedenfalls, nicht unbedingt de jure, aber werden immer mehr zu einem Staat, und das ist ein Teil der Antwort auf Ihre Frage, ob und wie sich denn die Einheit des Irak oder auch anderer Staaten wie Syrien etwa, noch erhalten lassen wird.
    Was nicht mehr funktionieren wird, sind zentralistische Staaten, die aus Bagdad heraus oder aus Damaskus heraus bestimmen, was auch in der hintersten Provinz Syriens oder Irak geschieht. Die Unmöglichkeit, einen Staatsverband im Irak zu erhalten, liegt in einer ganz starken Dezentralisierung oder Föderalisierung. Kurdische Politiker sprechen auch von einer Konföderation, wo man dann eben bestimmte Staatsfunktionen, Außenpolitik, Ölpolitik, Verteidigungspolitik nach wie vor nationalstaatlich organisiert, aber ganz viel regionale Autonomie erlaubt, zulässt, bei allen kulturellen Fragen, bei wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen und so weiter.
    "Es gibt sehr viel schlechtere Alternativen zum Nationalstaat"
    Zurheide: Sehen Sie denn politische Kräfte oder eine politische Kraft, die das am Ende umsetzt, oder wird auf dem Weg dahin noch so viel Blut vergossen, und das ist ja die aktuelle Beschreibung, dass das am Ende nicht gelingen wird? Wagen Sie da eine Prognose?
    Perthes: Ich bin ganz vorsichtig mit einer Prognose. Es hängt sowohl an den Strukturen, da haben wir gerade drüber geredet als auch am Personal, da haben wir davor drüber geredet, Herr Maliki beispielsweise. Aber ja, es gibt sehr viel schlechtere Alternativen zum Nationalstaat, etwa die Übernahme von nihilistischen, dschihadistischen Organisationen, wie wir das zum Teil jetzt in Teilen des Irak erleben, eben der sogenannte Islamische Staat. Das sind Personen, die eine ganz andere Vorstellung von Autorität und Regierung haben, die sich nicht an territorialen Grenzen fest macht, die ihren Staat ja auch nicht etwa in die Vereinten Nationen bringen wollen, sondern den Anspruch haben, dass ihr Herrscher gleichzeitig die Loyalität aller Muslime in der Welt genießen muss.
    Das sind schon Vorstellungen, die viele Muslime sunnitischer oder schiitischer Konfession und viele Kurden genug beunruhigen, um eben diese vernünftigen Menschen im Parlament, mit denen wir angefangen haben, dazu zu bringen, zu sagen, lasst es uns noch mal versuchen, a) einen Präsidenten zu wählen, einen Parlamentspräsidenten zu wählen und dann vielleicht auch Einigung auf einen etwas besseren Ministerpräsidenten zu finden und eine Verfassung zu erarbeiten, um einer stärker dezentral organisierten Form Raum zu geben. Ob das dann Föderalismus, Konföderalismus oder Dezentralisierung genannt wird, ist letztlich egal.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.