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Naher Osten
Kindersterblichkeit im Gazastreifen gestiegen

Die Kindersterblichkeit im Gazastreifen ist laut Berechnungen der UNO angestiegen. Grund dafür ist nicht nur die schlechte medizinische Versorgung: Auch Faktoren wie Ernährung, Hygiene und nicht zuletzt psychische Traumata durch den Krieg beeinflussen die Gesundheit der Menschen.

Von Tim Aßmann | 01.09.2015
    Eine Hand mit Schläuchen hängt aus einem Krankenbett.
    Die Hamas warnt vor einem kompletten Kollaps der Krankenhäuser in Gaza. (MAHMUD HAMS / AFP)
    Die Ambulanz der El-Nasser-Kinderklinik in Gaza-Stadt. Die Behandlungsräume sind hellgrün gekachelt, von den Krankenbetten platzt der weiße Lack zum Teil ab. Auf einem der Betten liegt der kleine Hamad. Ein Arzt untersucht ihn, die Mutter steht daneben.
    "Er hat Fieber und Durchfall. Er ist vier Monate alt."
    Von den kleinen Patienten, die gerade im El-Nasser-Krankenhaus behandelt werden, leiden viele unter Durchfall. Auch die sieben Monate alte Noor. Ihre Mutter schildert die Rahmenbedingungen unter denen sie versucht, die kleine Noor gesund zu halten.
    "Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist schlecht und die Hygiene ist es auch, viel schlechter als in anderen Ländern."
    Hamas warnt vor einem kompletten Kollaps
    Schlecht sind nicht nur die Rahmenbedingungen außerhalb des Krankenhauses. Gut ausgebildetes Personal, moderne Technik, ausreichend Medizin - es fehlt an allem, sagt Oberarzt Jamal Tayib. Er leitet die Aufnahme im El-Nasser Kinderkrankenhaus.
    "Zum einen fehlen uns häufig die Medikamente, weil wir nicht genügend Nachschub bekommen. Außerdem können medizinische Geräte nicht repariert werden, wenn sie ausfallen. Wir bekommen keine Ersatzteile und müssen deshalb auf die Geräte verzichten."
    Die Hamas-Regierung warnte vor Kurzem vor einem kompletten Kollaps in den Krankenhäusern des Gazastreifens. Der schlechte medizinische Standard in den Kliniken wird auch als ein möglicher Grund für eine traurige Statistik gesehen: Die Kindersterblichkeit ist angestiegen. Das geht aus Berechnungen des UN-Flüchtlingshilfswerks für die Palästinenser hervor. 2008 kamen auf 1.000 Geburten rechnerisch 20 Todesfälle. Bei der nächsten und bisher letzten Erhebung 2013 waren es 22. Kein starker Anstieg, aber trotzdem alarmierend, sagt Ghada El-Jadba. Die Ärztin leitet den Gesundheitsdienst der UN im Gazastreifen. Sie beunruhigt vor allem der überproportionale Anstieg der Kindersterblichkeit in den ersten vier Wochen nach der Geburt von zwölf Todesfällen auf 20.
    "Es gibt einen deutlichen Anstieg bei der Sterblichkeit von Neugeborenen, und zwar hauptsächlich nach Frühgeburten oder durch angeborene Fehlbildungen. Der dritte, etwas weniger wichtige Grund, sind Infektionen."
    Zunahme von angeborenen Herzfehlern
    Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinenser ist im Gazastreifen für die Gesundheitsversorgung von 1,2 Millionen der insgesamt rund 1,8 Millionen Einwohner zuständig. Die Kindersterblichkeit ist ein wichtiger Indikator für die Gesundheit der gesamten Bevölkerung. Die Ursachen sind nicht nur rein medizinisch. UN-Expertin Ghada el-Jadba unterstreicht die Bedeutung der Einflussfaktoren in dem seit 2006 abgeriegelten Küstenstreifen. Sie spricht von einem Desaster:
    "Es gibt drei zentrale Gesundheitskomponenten: physisch, psychisch und sozial. Sie werden in Gaza niemand ohne Trauma finden. Wenn die Situation so bleibt - ohne Wiederaufbau, mit der andauernden Blockade und keinerlei Erholung für die Wirtschaft - wird die Lage in Gaza sehr schlimm."
    Alarmiert durch die Zahlen zur Kindersterblichkeit aus dem Jahr 2013 werden die Vereinten Nationen nun eine neue Studie durchführen. Unabhängig davon schildert Oberarzt Jamal Tayib eine Beobachtung, die seine Kollegen und er im El-Nasser-Krankenhaus in der Zeit seit dem Krieg im vergangenen Sommer gemacht haben:
    "Im letzten Jahr, nach dem Krieg, ist uns eine Zunahme von angeborenen Herzfehlern aufgefallen. Es gibt eindeutig viel mehr davon als früher und sie sind eine häufige Todesursache unter den Neugeborenen."
    Von denen es weiterhin sehr, sehr viele gibt. Die Geburtenrate im Gazastreifen bei 4,3. Sie ist damit eine der höchsten weltweit.