Freitag, 19. April 2024

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Nahles: Mindestlohn in einzelnen Branchen ist die Stufe 1

SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles hält brachenspezifische Lösungen für einen ersten Schritt zur Einführung verbindlicher Mindestlöhne. Weil es aber in einigen Berufsgruppen keine Tarifverträge gebe, komme man um eine gesetzliche Definition von Lohnuntergrenzen nicht herum, sagte Nahles.

Moderation: Silvia Engels | 18.06.2007
    Silvia Engels: Den Spitzenvertretern der Großen Koalition könnte ein langer Abend bevorstehen. Bei ihrem Treffen in Berlin geht es vor allem um Mindestlöhne und um die Reform der Pflegeversicherung, also um nicht weniger als um zwei Zankäpfel, bei denen man sich seit Monaten nicht einig geworden ist. Bei der Pflegeversicherung zeichnet sich nun eine Einigung ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte gegenüber der Bildzeitung, man werde die Leistungen für die Demenzkranken gezielt verbessern. Aus mehreren Quellen ist zu hören, dafür würden die Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,2 bis 0,3 Prozent steigen.

    Am Telefon ist nun die Gesundheitsexpertin und designierte stellvertretende SPD-Chefin Andrea Nahles. Guten Morgen Frau Nahles!

    Andrea Nahles: Guten Morgen!

    Engels: Die Einigung, wie Frau Merkel sie skizziert, ist das schon das Endergebnis?

    Nahles: Na, da kommt aber noch ein bisschen was dazu. Ich freue mich aber, dass wir tatsächlich einen Konsens darüber haben, wo es Verbesserungen braucht. Aber hier sehe ich neben den Demenzkranken, die ein sehr wichtiger Punkt sind, auch noch eine Besserstellung der ambulanten Versorgung von Pflegebedürftigen und - so glaube ich - brauchen wir auch ein Stück weit mehr Pflegepersonal, um insgesamt auch die Pflege für alle auch in den Heimen zu verbessern.

    Engels: Das sind auch Leistungen, die besser werden sollen, aber geeinigt hat man sich nicht bei der Finanzierung, denn dieser Mehrbedarf in Milliardenhöhe, den alle Experten mittelfristig bei der Pflegeversicherung anmelden, der wird durch diese geringe Beitragssteigerung nicht ausgeglichen.

    Nahles: Das ist tatsächlich so. 0,3 Prozent sind drei Milliarden. Das würde das, was ich gerade an den Mehrleistungen beschrieben habe, tatsächlich abdecken können. Trotzdem ging es bei der Finanzierungsfrage um die Frage, wie wollen wir es in Zukunft stabilisieren. Wie wollen wir in Zukunft das System krisenfest machen. An der Stelle gab es eben Meinungsunterschiede. Aber was die Verbesserung der Leistung angeht, würde die Beitragserhöhung um 0,3 Prozent auf jeden Fall sogar für mehr als zehn Jahre reichen.

    Engels: Sie wollten ja zur Finanzierung die privaten Pflegekassen einbeziehen. Das hat nicht geklappt, weil die Union es ablehnt. Umgekehrt wollte die Union die Versicherten extra einen Kapitalstock ansparen lassen, um Pflegeleistungen im Alter bezahlen zu können. Das hat dann wiederum die SPD kassiert. Hätte man sich nicht wenigstens auf etwas einigen können, um hier mit dem Extrasparen beispielsweise schon anzufangen?

    Nahles: Ich gehe ganz klar davon aus, dass das versucht wurde. Ich bin allerdings der Meinung, dass man nicht in jedem Sozialsystem jetzt eine private Zusatzversorgung ansparen kann, beziehungsweise: Wo sollen die einfachen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das hernehmen? Insbesondere die unteren Lohngruppen haben noch nicht mal zu unserem Bedauern die freiwillige Riester-Rente abgeschlossen. Das tun eben genau die, die es am Ende dringend brauchen, nicht. Deswegen sollte man nicht jetzt wieder Neues aufmachen. Es hätte vollkommen ausgereicht, wenn die Privaten anteilig auch an dem, was sie an Vorteilen haben, weil sie deutlich bessere Einkommensgruppen und deutlich bessere Pflegerisiken versichern, dort einen Ausgleich gemacht hätten. Dann würden wir das gar nicht brauchen.

    Ich bin auch für kollektive Absicherung und nicht, dass jeder Bürger jetzt für alles selber vorsorgen muss, wie das ja auch einige in der Union fordern. Das ist unsolidarisch und da gab es mit uns tatsächlich keine Einigungsmöglichkeit.

    Engels: Nun werden die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen. Wie wollen Sie das Ihren Wählern als Erfolg verkaufen?

    Nahles: Es gibt auch eben bessere Leistungen. Ich glaube, wenn man bei dem Druck, der hier bei der Pflege da ist, der in vielen Familien ankommt, wirklich Abhilfe schaffen kann durch eine bessere Versorgung der Pflegebedürftigen, dass dann die Bereitschaft vielleicht nicht begeistert, aber doch da ist, für mehr Leistung und die Verbesserung der Situation auch tatsächlich einen kleinen Beitrag - und wir reden hier über 0,3 Prozent - an Mehrausgaben zu tätigen.

    Streit um Mindestlohn
    Engels: Frau Nahles, zweiter Zankapfel heute Abend ist der Mindestlohn. Die SPD will einen generellen gesetzlichen Mindestlohn festlegen. Die Union bietet dagegen an, das Entsendegesetz, das derzeit für Baubranche und Gebäudereiniger gilt, möglicherweise auf andere Branchen auszuweiten. Dieses Entsendegesetz sieht die verbindliche Anwendung des Tariflohns in einer Branche vor. Gestern haben Sie im ZDF erklärt, man könne mit einem branchenspezifischen Mindestlohn anfangen. Also eigentlich sind Sie sich einig?

    Nahles: Ja! Wir von der SPD haben immer gesagt, wir wollen mit einem branchenspezifischen Mindestlohn beginnen. Das ist die Stufe 1. Ich bin froh, dass die Union sich hier doch bewegt hat. Es ist einfach nicht einzusehen, warum wir das zum Beispiel bei Zeitarbeitern, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer uns bitten, einen Mindestlohn über das Entsendegesetz einzuführen, verweigern sollten. Insoweit bin ich froh, aber es reicht nicht und das habe ich eben auch noch mal gesagt. Es ist schlicht so, dass wir in einigen Branchen keinerlei Tarifvereinbarungen mehr haben. Zum Beispiel das Friseurhandwerk bei mir in Rheinland-Pfalz hat seit 2000 überhaupt keinen Tarifvertrag mehr abgeschlossen. Hier brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir bestehen also durchaus auf beiden Schritten, aber wenn die Union sich zum letzteren nicht entscheiden kann, dann ist es für uns auch in Ordnung, mit dem ersten zu beginnen.

    Engels: Das heißt auch wenn es keinen gesetzlichen Mindestlohn in bestimmten Branchen gibt, dann ist trotzdem eine Einigung möglich?

    Nahles: Ich gehe davon aus, dass es notwendig ist, wenn wir staatliche Subventionsleistungen geben, ob das nun über Kombilöhne ist, ob das über das Modell von Franz Müntefering ist, dass wir die Sozialversicherungsabgaben mit Steuern subventionieren, dass wir dann eine Vorstellung davon haben müssen, was ist denn das Minimum, was ein Mensch braucht, der arbeitet und davon leben soll. Insoweit kann ich mir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vorstellen, wie dieses Problem heute Abend gelöst wird. Ich bin froh, dass wir beim Entsendegesetz eine Einigung mit der Union bezüglich Branchen erreichen können, aber ich habe doch noch Fragen, was die Bereitschaft angeht, ein Minimum in diesem Land zu definieren. 20 Länder in Europa haben Mindestlöhne. Ich denke die sind davon wirtschaftlich nicht in die Knie gegangen; im Gegenteil! Wir sollten da mehr wagen als die Union bereit ist, im Vorfeld der Verhandlungen heute Abend bereitzubiegen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hoffe, dass wir uns noch ein Stück weiter auf einen Mindestlohn zubewegen, und zwar einen gesetzlichen.

    Engels: Nehmen wir an, der gesetzliche Mindestlohn kommt in bestimmten Branchen, wer legt dann die Allgemeinverbindlichkeit fest: Arbeitsminister, Kabinett oder Bundestag? Denn die Union will ja, dass das die Tarifpartner tun.

    Nahles: Wenn es alleine die Tarifpartner machen - das ist ein so genannter Tarifausschuss -, dann sind das doch drei Arbeitgebervertreter und drei Arbeitnehmervertreter. Eine Seite könnte dann immer ihr Veto einlegen. Im Zweifelsfall wäre das in dem Fall der BDA. Ein Veto für den BDA bedeutet aber - das haben wir in der Vergangenheit gelernt -, dass es keine Ausweitung von Mindestlöhnen in den Branchen gibt, weil sie das ablehnen, wenigstens in den wichtigen zentralen Branchen ablehnen. Insoweit können wir mit so einer Konstruktion nicht leben. Das wäre eine Verschlechterung gegenüber der jetzigen Situation, wo es ein Ministerentscheid ist.

    Keine Zusammenarbeit mit der "Linken"
    Engels: Frau Nahles, am Wochenende hat sich die neue Linke gegründet. Ihr SPD-Fraktionskollege Lauterbach hat jüngst daran erinnert, es gebe im Bundestag rechnerisch eine linke Mehrheit. Sollte man mit der Linken im Land wie im Bund ins Gespräch kommen?

    Nahles: Im Land regieren wir in Berlin zum Beispiel mit der Nachfolgeorganisation der PDS, jetzt die Linke. Auf der Bundesebene sehe ich überhaupt keine Chance. Es ist schlichtweg so, dass die Positionen der Linken überhaupt nicht kompatibel sind mit allen anderen demokratischen Parteien, insbesondere in der Außenpolitik, aber auch in der Sozialpolitik. Also nein! Ich kann nur sagen: So sehr hier auch tatsächlich arithmetische Mehrheiten gesehen werden, in der Realität gibt es sie nicht.

    Engels: Andrea Nahles, SPD-Präsidiumsmitglied und designierte Parteivize. Ich bedanke mich für das Gespräch!

    Nahles: Vielen Dank!