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Nahost-Konflikt
Auf der anderen Seite des Tunnels

Der Brite William Sutcliffe ist durch die amüsante Backpacker-Geschichte "Meine Freundin, der Guru und ich" bekannt geworden. Nun hat er ein politisches Jugendbuch geschrieben - das sich im Nahost-Konflikt eindeutig positioniert.

Von Sandra Pfister | 16.02.2015
    Die Geschichte spielt in der fiktiven Siedlung Amarias in der Westbank. Sie steht stellvertretend für die 300 scharf bewachten jüdischen Siedlungen dort. Diese müssen - mit Mauern und hoher Militärpräsenz - gegen die ehemaligen palästinensischen Landeigentümer verteidigt werden. 2,4 Millionen Araber und 300.000 Israelis treffen hier aufeinander - oder besser gesagt, sie tun es nicht, wie Joshua, der 13-jährige Protagonist, eines Tages erkennt:
    "Ich wohne in Amarias, seit ich neun bin, und in diesen vier Jahren bin ich niemals auf der anderen Seite gewesen. Die Mauer ist höher als das höchste Haus in der Stadt. (...) Die Mauer wurde errichtet, um die Leute auf der anderen Seite davon abzuhalten, Bomben zu zünden, und jeder sagt, dass sie ihren Zweck hervorragend erfüllt. Die meisten Arbeiter auf den Baustellen in Amarias stammen von der anderen Seite, doch ansonsten hat man eigentlich das Gefühl, es gibt sie gar nicht, obwohl sie praktisch nebenan wohnen."
    Das ändert sich, als Joshua seinen Fußball über einen Grenzzaun schießt und bei der Gelegenheit auf einer Baustelle einen Tunnel entdeckt. Er springt hinein und landet in einem anderen Leben: auf der palästinensischen Seite. Nach kurzer Zeit fällt er dort als Israeli auf, eine Jugendgang verfolgt ihn. Als es brenzlig wird, rettet ihn Leila, ein etwa gleichaltriges palästinensisches Mädchen. Sie versteckt ihn und zeigt ihm den Weg zurück zum Tunnel. Dass ein Mädchen, das laut der offiziellen israelischen Wahrnehmung als seine Feindin gelten soll, das selbst hungert und offenkundig unter der israelischen Besatzung leidet - dass dieses Mädchen ihm so viel Gutes tut, das lässt den 13-Jährigen nicht wieder los.
    "Seit ich hier wohne, hat man mir Geschichten über den Feind erzählt, und was der mit uns machen will. Alles (...) an Amarias beruht auf diesen Geschichten. Wenn du sie anzweifelst, verschwindet deine gesamte Welt."
    Außenseiter in Israel
    Der Eindruck von "der anderen Seite" des Tunnels politisiert den jungen Israeli. Es macht ihn noch mehr zu einem Außenseiter in einer Umwelt, in der Konsens darüber herrscht, dass "die Araber" gefährlich und verabscheuungswürdig sind. Seither kann Joshua nicht mal mehr mit seinem besten Freund David reden - und mit seiner Mutter auch nicht, weil die bedingungslos zu seinem Stiefvater Liev hält. Der ist militanter Siedler.
    "Wenn ich (...) die Wahrheit sage, dann wird das eine Kettenreaktion auslösen, die ich nicht mehr unter Kontrolle habe. Liev wird es der Polizei erzählen, die Polizei der Armee, die Armee wird über die Mauer gehen und ihre Arbeit tun. Es wird eine Untersuchung geben, Kreuzverhöre, Gefängnis. Eine rachsüchtige Maschinerie wird anspringen. Ich will diese Maschinerie nicht in Gang setzen. Ich kann niemandem etwas erzählen."
    Joshua geht noch einmal durch den Tunnel ins Palästinensergebiet. Er bringt der Familie, die ihn gerettet hat, Lebensmittel und später auch Medikamente. Er erlebt, wie rücksichtslos die Israelis mit den Palästinensern umspringen. Und er will etwas daran ändern: Er verspricht Leilas Vater, sich um dessen Olivenhain zu kümmern. Denn die israelischen Behörden lassen den älteren Mann nur alle vier Wochen ausreisen - in der Zwischenzeit aber vertrocknet dessen Ernte. Der junge Israeli will ihm helfen.
    "Er hat gesagt, das Land wäre das seines Vaters und seines Großvaters gewesen und dass er sich für seine Söhne darum kümmert. Wenn ich einen neuen Baum pflanze, dann (...) würde er wissen, dass (die Oliven) für seinen Sohn wachsen und für den Sohn seines Sohnes. (...) Allein dafür ist es die Mühe wert: Um ihm zu zeigen, dass ich verstanden habe, was er gesagt hat, was sein Hain ihm bedeutet, und weil wir dadurch einen kleinen Widerstand leisten gegen den Diebstahl dieses Landes."
    Kein Happy End, keine Lösung des Konflikts
    Durch seinen heimlichen Widerstand entfremdet sich Joshua von seiner Familie und seiner Umwelt. Doch er bleibt sich treu - auch, wenn ihm dafür kein Happy End gegönnt ist. Bei seinem dritten und letzten Weg zurück aus der Westbank wird er am Checkpoint von israelischen Soldaten angeschossen und ist von da an querschnittsgelähmt. Es gibt im Buch redlicherweise auch nicht die Spur einer Lösung für den Nahost-Konflikt; so vermessen ist der Autor nicht. Aber er glaubt offenkundig an eine langfristige Annäherung. Daran lässt er seinen Protagonisten mitarbeiten.
    "(...) Ich fühle mich von einem neuen Ziel angetrieben. (...) Ich werde zurück in die Zone gehen. Wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann, werde ich zurückkehren, nicht nach Amarias, sondern in Leilas Stadt und werde sie vielleicht sogar suchen. Ich habe versucht zu helfen und bin gescheitert, aber ich kann es wieder versuchen und immer wieder, und wenn ich erneut scheitere, kann ich es noch einmal versuchen."
    Mit seinem Helden hat der britische Autor sich klar politisch positioniert: Die Israelis, das ist der Tenor des Buches, müssen ihre Siedlungspolitik hinterfragen. Seine Sicht der Dinge ist dabei bewusst einseitig: Palästinensische Anschläge kommen im Buch nicht vor. Allerdings auch keine leitartikelhaften Sonntagsreden. Das Buch ist ein packender politischer Jugendroman. Es ist unterhaltsam, berührend und neben all dem auch sprachlich ein Genuss. Sutcliffe macht erst gar nicht den Versuch, sich an irgendeine schnoddrige Jugendsprache anzubiedern. Wer das Buch in der Hand hat - der wird es so schnell nicht mehr weglegen.
    William Sutcliffe: "Auf der richtigen Seite" (Übersetzung: Christiane Steen), Rowohlt Verlag , 352 Seiten, 16,99 Euro, ISBN: 978-3-499-21231-4.