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Nahost-Konflikt
"Wir brauchen den Aufstand der Anständigen"

Die Stimmung zwischen Israelis und Palästinensern nach den Morden auf beiden Seiten sei sehr angespannt, sagte Michael Mertes, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, im DLF. Beide Volksgruppen hetzten gegeneinander. Die Situation drohe zu eskalieren.

Michael Mertes im Gespräch mit Friedbert Meurer | 03.07.2014
    Die fröhlichen Feiern, die in Jerusalem nach Sonnenuntergang bei den Palästinensern im islamischen Fastenmonat Ramadan allgegenwärtig sind, fallen diesmal aus. "Es herrscht eine extrem aufgeheizte Atmosphäre in der Stadt", sagte Michael Mertes, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, im Deutschlandfunk. Israelis und Palästinenser hetzten gegen die Vertreter der jeweilig anderen Volksgruppe. "Tod den Arabern skandiert die Siedlerjugend in der Jaffa-Straße", berichtete Mertes.
    Vor allem in den sozialen Netzwerken wie Facebook sei der Hass aufeinander allgegenwärtig. Der Stiftungsleiter fordert in dieser Situation einen "Aufstand der Anständigen". Die meisten Israelis und Palästinenser seien gegen jede Art von Gewalt. Sie müssten ihre Stimmen erheben und den Hass aufeinander so Einhalt gebieten. "Die Rettung kann nicht von außen kommen, sondern nur aus der Zivilgesellschaft", sagte Mertes.

    Das Interview mit Michael Mertes in voller Länge
    Friedbert Meurer: Michael Mertes leitet die Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem. Guten Tag, Herr Mertes.
    Michael Mertes: Guten Tag.
    Meurer: Wie erleben Sie im Moment die Stimmung in Jerusalem?
    Mertes: Ich erlebe sie zum Beispiel in der Form, dass in der vergangenen Nacht ständig Hubschrauber über Ostjerusalem gekreist sind. Ich habe das beim offenen Fenster gehört. Ich erlebe es in der Form, dass die fröhlichen Feiern, die nach Sonnenuntergang im Ramadan auf den Straßen stattfinden, in diesem Jahr ausfallen. Es herrscht eine geradezu gespenstische Ruhe. Ich habe vorgestern Abend gesehen auf der Jaffa-Straße, wie auf der einen Seite junge Menschen sich versammelt haben um Kerzen, die sie für die drei ermordeten israelischen Jugendlichen aufgestellt haben im stillen Gedenken, und auf der anderen Seite junge Menschen, ganz offenbar aus der Siedlerjugend, die "Tod den Arabern" skandierten.
    Meurer: In welchem Teil Jerusalems ist die Jaffa-Straße?
    Mertes: Die Jaffa-Straße ist in Westjerusalem. Ich bin über die Altstadt zum Jaffa-Tor, dann in die Jaffa-Straße gegangen und wollte einfach mal sehen, wie sich das Ganze atmosphärisch auswirkt, und es war wesentlich anders als das, was ich in den vergangenen Jahren im Ramadan erlebt habe.
    "Die Atmosphäre ist extrem aufgeheizt"
    Meurer: Wenn wir nach Ostjerusalem schauen - ist es im Moment zu gefährlich, dort hinzugehen?
    Mertes: Es ist im Moment zu gefährlich. Es gibt Warnungen, dort hinzugehen, und ich habe mich dort jetzt auch nicht aufgehalten. Ich bekomme aber einiges dadurch mit, dass ich auch palästinensische Freunde auf Facebook habe, die zum Teil live berichten über das, was sie dort sehen und erleben. Die Atmosphäre ist extrem aufgeheizt und ich möchte einen Punkt gerne betonen, den Tzipi Livni eben erwähnt hat. Es gibt das Phänomen hier, dass Facebook dazu genutzt wird, massive Hetze gegen die andere Seite zu betreiben. Es hat zum Beispiel eine Facebook-Seite gegeben, die dazu aufforderte, als die drei Jungen entführt wurden, dass jede Stunde, in der die drei Jungen nicht heimkehren, ein palästinensischer Gefangener in israelischer Haft getötet wird. Freunde von mir haben das bei Facebook gemeldet und sie haben von Facebook die Antwort bekommen, nein, eine solche Facebook-Seite widerspreche nicht den Richtlinien von Facebook. Da gibt es eine ganze Menge zu tun, um diese Hasskampagnen, die wir im Augenblick erleben, zu stoppen.
    Meurer: Was schildern Ihnen denn Ihre palästinensischen Freunde über Facebook, was Sie gerade gesagt haben?
    Mertes: Sie schildern das Vorgehen der israelischen Polizei. Sie schildern es aus einer Opferperspektive heraus. Sie schildern es im Ton der Empörung. Das ist natürlich die palästinensische Perspektive auf das, was da gelaufen ist. Es gibt keine Stimmen, jedenfalls ich habe keine gehört bisher, die zur Mäßigung aufgerufen haben. Leider gibt es auch auf israelischer Seite zu viele radikale Kräfte, die nach Hass rufen, nach Vergeltung rufen. Es gibt aber Gott sei Dank auch Stimmen der Vernunft, wie zum Beispiel die Familie eines der Ermordeten. Da hat ein Onkel gesagt, es gibt keinen Unterschied zwischen arabischem Blut und jüdischem Blut. Mord ist Mord. Für keinen Mord kann es Nachsicht oder Rechtfertigung geben. Ich hätte mir gewünscht, dass auf der israelischen Seite und auf der palästinensischen Seite Führungspersönlichkeiten eine solche klare Aussage gemacht hätten, um auch mäßigend einzuwirken auf die jeweils eigene Seite.
    "Die Rettung kommt nicht von außen"
    Meurer: Sie haben ja geschildert, Herr Mertes, dass in der Jaffa-Straße Kerzen aufgestellt wurden. Wir hören von einer Demonstration, an der 1000 Leute teilgenommen haben. So eine wahnsinnig hohe Zahl ist das nicht. Würden Sie im Moment sagen, die Stimmung in der Mehrheit ist ganz klar jeweils eine hohe Identifikation mit der eigenen Volksgruppe?
    Mertes: Ich will es mal so formulieren: Ich glaube aus meiner eigenen Erfahrung und auch aus dem, was ich in Umfragen sehe, dass die Mehrheit sowohl auf der israelisch-jüdischen Seite als auch auf der palästinensischen Seite aus anständigen Menschen besteht, die nichts mit dieser Hetze zu tun haben. Was beide Seiten jetzt brauchen, ist das, was man bei uns in Deutschland mal genannt hat: einen Aufstand der Anständigen. Die Rettung kommt nicht von außen. Die Rettung kommt aus dem Inneren der Zivilgesellschaft, und die Menschen auf der israelischen und der palästinensischen Seite, die müssen einen Aufstand machen: Hört endlich auf, das Leid der Opfer und ihrer Familien für eure politischen Zwecke zu instrumentalisieren, hört auf, Hetzpropaganda und Hassparolen gegen die jeweils andere Seite zu tolerieren, hört auf, die Gegenseite zu dämonisieren und zu dehumanisieren. Ich glaube, wenn es einen solchen Aufstand der Anständigen gäbe, wäre viel gewonnen.
    "Ich glaube nicht, dass die Hamas das alles voll im Griff hat"
    Meurer: Wir haben eben in dem Beitrag von Torsten Teichmann gehört, dass die Hamas im Gazastreifen ihre Angestellten nicht mehr bezahlen kann. Geldautomaten werden geplündert. Kann es sein, dass radikale Splittergruppen bei der Hamas unter anderem auch aus diesen Motiven heraus entstehen, die dann auf eigene Rechnung drei israelische Jugendliche umbringen?
    Mertes: Das kann durchaus sein. Ich will da jetzt nicht spekulieren. Es gibt allerdings zu viele Akteure auf der radikal-islamischen Seite, die gar kein Interesse daran haben, dass die Atmosphäre sich beruhigt, sondern die die Stimmung ganz bewusst weiter anheizen. Es gibt zum Beispiel die Gruppe des Islamischen Dschihad im Gazastreifen, es gibt radikale Salafisten, die auf eigene Rechnung arbeiten. Ich glaube nicht, dass die Hamas das alles voll im Griff hat.
    Meurer: Gibt es noch die Hamas?
    Mertes: Eine sehr gute Frage, die sich schon gestellt hat bei der Entführung der drei Jugendlichen. Soweit ich das beurteilen kann, spricht sehr viel dafür, dass die Entführung und die Ermordung der drei Jugendlichen geschehen ist durch Hamas-Gruppen oder durch Hamas-Mitglieder im Westjordanland, die aber nicht irgendwie Befehlen von oben aus dem Gazastreifen gefolgt sind.
    Meurer: Wie groß ist die Gefahr, dass aus diesen Morden ein neuer Krieg bei Ihnen wird?
    Mertes: Einen Krieg im konventionellen Sinne, den gibt es nicht. Es gibt einen asymmetrischen Konflikt, das heißt, einen Raketenbeschuss, wie wir ihn aus dem Gazastreifen haben, wie er aber auch aus dem Südlibanon kommen könnte, wie er möglicherweise auch aus Syrien kommen könnte. Das sind die Gefahren, die drohen. Ich sehe im Augenblick nicht die Gefahr - aber das ist leicht gesagt; in der nächsten Stunde kann das schon anders sein -, dass es wieder zu einer Welle von Selbstmordattentaten kommt. Im Moment funktioniert die Sicherheitszusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern noch ganz gut. Aber es ist ganz klar, dass wir uns in einer Situation befinden, in der die Lage dramatisch eskalieren kann.
    Meurer: Diese Sicherheitszusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern, die gut funktioniert, wie Sie sagen, wie sieht die aus?
    Mertes: Die sieht so aus, dass vor allen Dingen man intensiv austauscht Informationen auf geheimdienstlicher Ebene. Das heißt, es hat immer wieder Meldungen auch in letzter Zeit gegeben, wonach es den palästinensischen Sicherheitsbehörden gelungen ist, Terrorzellen auszuheben im Westjordanland. Ich bin jetzt natürlich nicht über die Einzelheiten informiert, aber diese Zusammenarbeit wird allgemein von allen Experten als der Hauptgrund für die relative Ruhe angesehen, die in den letzten Jahren hier geherrscht hat, weniger die Sperranlage, weniger die Mauer, sondern diese Zusammenarbeit.
    Meurer: Michael Mertes, der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, schildert den Alltag und den Wahnsinn im Moment in Jerusalem und in anderen Teilen Israels und den Palästinenser-Gebieten. Herr Mertes, danke und auf Wiederhören!
    Mertes: Ja, gerne. - Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.