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Nahost
Vor zehn Jahren räumte Israel Siedlungen im Gazastreifen

Als Ariel Sharon vor zehn Jahren verkündete, Israel werde seine Siedlungen im Gazastreifen aufgeben, feierten viele Palästinenser. Frieden brachte der Rückzug aber nicht: Kurz darauf gewann die radikalislamistische Hamas bei Wahlen die absolute Mehrheit.

Von Matthias Bertsch | 15.08.2015
    21.8.2005: Nach dem Abzug der Siedler lassen die israelischen Behörden die Siedlungsgebäude in Peat Sadeh, Gush Katif, Gazastreifen, abreißen. Das Bild zeigt einen Bagger, der ein Haus einreißt.
    21.8.2005: Nach dem Abzug der Siedler lassen die israelischen Behörden lassen die Siedlungsgebäude im Gazastreifen abreißen (picture alliance / dpa / epa / Orel Cohen)
    "Süßer, Liebling, du musst nicht weinen, es wird dir nichts passieren! Es ist nicht angenehm, aber wir werden dich jetzt zusammen mit deinem Papa hochheben und raustragen. Du musst keine Angst haben!"
    Es waren erschütternde Szenen, die sich in Kfar Darom abspielten, als die älteste jüdische Siedlung im Gazastreifen von der israelischen Armee geräumt wurde.
    "Gestern mussten wir ein Haus räumen, in dem es viele Kinder gab. Ihre Eltern hatten ihnen Sterne angeheftet, auf denen Jude stand. Ein Mädchen wollte sich nicht evakuieren lassen, sie sprach zu uns wie eine Erwachsene, bis wir alle weinten. Und schließlich ging sie mit erhobenen Händen aus dem Haus, wie in Auschwitz. Das war sehr schwer."
    Die Instrumentalisierung des Holocaust für den Widerstand gegen die Räumung der Siedlungen war Ausdruck einer Stimmung, die von Teilen des nationalreligiösen Lagers in Israel bewusst geschürt wurde. So riefen Militärrabbiner die Soldaten vor laufender Kamera zur Befehlsverweigerung auf:
    "Wir sind die israelische Verteidigungsarmee, eine Armee, deren Ziel es ist, den Staat Israel, das Volk Israel zu verteidigen und nicht unsere Brüder zu vertreiben. Ich werde meinen Soldaten keine Befehle erteilen, die der jüdischen Tradition widersprechen, und die auch dem Zionismus widersprechen. Es ist verboten, Befehle auszuführen, die all diesen Werten widersprechen."
    Keine Geste des guten Willens
    Während in Israel heftig über die Räumung der Siedlungen gestritten wurde, wurde der Abzug auf palästinensischer Seite gefeiert. Doch es gab auch skeptische Stimmen, wie die von Ghassan Khatib, Planungsminister in der Autonomiebehörde:
    "Es ist widersprüchlich. Wir Palästinenser sollten über jeden israelischen Rückzug froh sein, vor allem über den Rückzug aus Siedlungen, aber gleichzeitig müssen wir vorsichtig und besorgt sein, weil Israel Siedlungen ausbaut und seine Besatzung festigt, und zwar im viel größeren Westjordanland."
    In der Tat war der einseitige Abzug keine Geste des guten Willens gegenüber den Palästinensern, sondern eine strategische Entscheidung des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon. Er hatte den Siedlungsbau in den besetzten Palästinensergebieten jahrzehntelang vorangetrieben, doch zu Beginn des Jahrtausends zeigte sich, dass der Preis dafür hoch war: Die Palästinenser reagierten mit einem blutigen Aufstand, der Zweiten Intifada, und auch innenpolitisch geriet Scharon unter Druck: Israelische Eliteeinheiten und der ehemalige Geheimdienstchef warfen der Regierung vor, mit ihrer Politik die Demokratie und die Sicherheit Israels zu gefährden. Im Februar 2004 verkündete Scharon deswegen öffentlich einen Trennungsplan:
    "Wir gehen raus aus dem Gazastreifen, aus einer Gegend, in der es überhaupt keine Chance gibt, dort eine jüdische Mehrheit anzusiedeln. Gleichzeitig richten wir unser Haupt-Augenmerk auf die Regionen, die für die Sicherung unserer Existenz am Wichtigsten sind: Galilea, den Negev, der Großraum Jerusalem, die Siedlungsblocks und die Sicherheitszonen. Ich habe den Trennungsplan initiiert, weil er das beste Instrument für eine grundlegende Änderung der nationalen Situation Israels ist."
    Rückzug brachte keinen Frieden
    Trotz heftiger Kritik seitens der Siedler hatte Scharon die Mehrheit der Israelis hinter sich, als der Abzug am 15. August 2005 begann: Vier Wochen später waren alle 21 jüdischen Siedlungen geräumt. Mehr Frieden mit den Palästinensern - und damit mehr Sicherheit für Israel - brachte der Schritt allerdings nicht, im Gegenteil. Wenige Monate später gewann die radikalislamische Hamas-Bewegung, die eine Zerstörung Israels fordert und immer wieder Raketen auf Israel abfeuert, bei den Wahlen zur Palästinensischen Autonomiebehörde die absolute Mehrheit. Und dieser Aufstieg der Hamas, so Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik, war auch eine Konsequenz des einseitigen Abzugs:
    "Dadurch, dass der Abzug eben nicht verhandelt wurde, dass der Schlüssel für den Gazastreifen sozusagen nicht der Palästinensischen Autonomiebehörde, nicht der Fatah, übergeben worden ist, konnte diese auch nicht reklamieren, dass der Weg der Verhandlungen belohnt wird, dass er lohnend ist überhaupt für die Palästinenser. Das Signal für die Palästinenser bei diesem einseitigen Abzug war ganz klar: Widerstand lohnt sich, und für Widerstand steht halt in allererster Linie die Hamas und nicht die Fatah, und das hat ganz klar zu ihrer Stärkung mit beigetragen."