Freitag, 19. April 2024

Archiv


Napoleon. Verbannung und Verklärung.

Nachdem Napoleon am 18. Juni 1815 die entscheidende, die letzte Schlacht bei dem belgischen Städtchen Waterloo im Süden von Brüssel verloren hatte, herrschte eine sonderbare Unklarheit darüber, was nun eigentlich geschehen solle. Tage-, ja wochenlang zog der Ex-Kaiser mit seinem immer noch beachtlichen Gefolge umher, während sich in Frankreich eine provisorische Regierung bildete. Manche seiner Getreuen rieten ihm zur Flucht nach Amerika - immerhin lagen im Hafen von La Rochelle zwei Fregatten, die wegen ihrer Wendigkeit sogar gute Chancen hatten, die Küstenblockade der Engländer zu durchbrechen. Napoleon tat, was sonst nicht seine Sache war: Er zögerte und grübelte. Eine Weile hegte er die geradezu absurde Illusion, er würde von seinen siegreichen Feinden freies Geleit bekommen oder wenigstens auf einem Schloss in der Nähe von London untergebracht werden. In der Tat herrschte auch auf deren Seite eine sonderbare Unklarheit darüber, was mit dem Mann, der ganz Europa umgegraben hatte - politisch, gesellschaftlich und kulturell - , nun eigentlich geschehen solle.

Burkhard Müller-Ullrich | 15.01.2001
    An dieser Stelle der Geschichte setzt Johannes Willms mit seinem Buch "Napoleon. Verbannung und Verklärung" ein - ein Buch, das durch die zufällige Koinzidenz mit einem in Frankreich entbrannten Gelehrtenstreit eine gewisse Aktualität bekommt. Denn ein angeblicher Aktenfund auf einem Dachboden hat den schon seit langem geäußerten Vermutungen, dass Napoleon vergiftet wurde, neue Nahrung gegeben. Willms hält von der These nichts, aber dass er sie nicht einmal erwähnt, obwohl es eine üppige Literatur darüber gibt, macht seine Darstellung nicht unbedingt vertrauenswürdig. -

    Nebensächlich ist die Frage allerdings nur, wenn man sich - wie Willms - weniger für die konkret-faktische Seite von Geschichte als für ihren ideologischen Überbau interessiert. Deswegen nimmt der Teil seines Buchs, der von Napoleons Nachwirkungen handelt, weitaus mehr Raum ein als die Beschreibung der sechsjährigen Verbannung auf Sankt Helena, jener Insel im Atlantik zwischen Südafrika und Südamerika, 1800 Kilometer Luftlinie von der einen Küste und 3500 von der anderen entfernt, wohin der Kaiser, der auf diesem Titel immer noch beharrte, als Gefangener der Engländer gebracht wurde. Am 15. Juli 1815, also fast einen Monat nach Waterloo, hatte er sich endlich ergeben, dann waren nochmal zwei Wochen vergangen, bis ihm der Beschluß, den die Allianz der Siegermächte über ihn gefaßt hatte, eröffnet wurde. -

    Genau ein Vierteljahr später, am 15. Oktober, kam er schließlich auf dem entlegenen Eiland an, zusammen mit einem kleinen Hofstaat, bestehend aus ein paar Generälen, deren Frauen, einem Leibarzt und zwölf Domestiken. Sie alle waren ihrem geliebten Führer und Idol freiwillig gefolgt, allerdings unter der Bedingung, dass niemand ohne Erlaubnis der englischen Regierung und des Kaisers die Insel verlassen dürfe. Das heißt, die kleine Community war dort in Longwood House auf Gedeih und Verderb miteinander gefangen - und zwar im Unterschied zu den Insassen des "Big Brother"-Containers nicht für vorbestimmte Zeit, sondern für immer. Genauer: Solange Napoleon lebte. -

    Hier knüpfen nun Spekulationen darüber an, ob jemand vielleicht beim Sterben etwas nachgeholfen habe - und der schwerwiegendste Verdachts fällt auf General Charles de Montholon, den Mann, der während des Aufenthaltes auf Sankt Helena Napoleons Lieblingsjünger und schließlich auch Haupterbe seines immer noch beachtlichen Vermögens wurde. Willms will von alledem nichts wissen. Allerdings irrt er, wenn er behauptet, Montholon sei Napoleon am Anfang des gemeinsamen Exils "weder vertraut noch auch nur flüchtig bekannt" gewesen. Denn Montholons Gemahlin Albine berichtet in ihrem kürzlich aufgetauchten Tagebuch, dass ihr Mann bereits als Zwölfjähriger einen Monat lang Napoleons Gast in Ajaccio gewesen und von Napoleon sogar in Mathematik unterrichtet worden sei. Albine gehörte zu den wenigen Frauen im Sankt-Helena-Exil, bis sie schwanger wurde und nach Europa reiste. Dass Napoleon und sie große Zuneigung für einander empfanden, ist dokumentiert. Und die Vermutung, dass sie das Kind, das in Brüssel zur Welt kam und dort früh verstarb, von Napoleon empfangen hatte, liegt nicht gerade fern.

    Statt solcher Spekulationen aber bietet Johannes Willms einen ideengeschichtlichen Abriß über den Bonapartismus und seine langen Schatten, die bis zur politischen Symbolik von de Gaulle und Mitterrand reichen. In der Tat läßt sich manches in der französischen Politik bis heute nur verstehen, wenn man dieses personalistische, diktatoriale Erbe Napoleons als Deutungsmuster nimmt. Schon die Einordnung dieser Tradition nach Kategorien wie "links" und "rechts" fällt schwer; Napoleon fühlte sich allemal Repräsentant und Vollender der Revolution, zugleich führte er sich als machtgieriger Egoist auf, der die Rechte der Völker mißachtete. - Für die Zukunft verspricht Willms, seinen Hang zum Theoretisieren zugunsten einer vitaleren, spritzigeren und saftigeren Darstellungsweise zu unterdrücken. Im vorliegenden Buch kommt sie etwas zu kurz.