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Nasse Pappe

Die US-Amerikanerin Meg Stuart ist Choreographin in Residence an der Berliner Volksbühne. Brauchen wir Illusionen, um zu überleben? Wie zerbrechlich ist die Konstruktion unseres Denkens? Solche Fragen will ihr Tanz-Stück "Blessed" stellen, ohne sie zu beantworten. Doris Dziersk hat dazu aus Pappe das Bühnenbild erstellt und das bei dem Regen.

Von Wiebke Hüster | 04.04.2007
    Nasse Pappe riecht fast so schlimm wie nasser Hund. Diese Erfahrung war auch schon die stärkste, mit der Meg Stuarts neues Solo "Blessed" aufwarten konnte. Anstatt auf der großen Bühne mit einer Gruppe von Tänzern zu arbeiten, hat sie die Premiere von "Blessed" - was soviel wie glücklich, gesegnet, selig, bedeutet, auf die Hinterbühne des Theaters verlegt. Das Publikum sitzt auf seiner Tribüne und schaut nun zu, wie ein kleiner Mann mit einem Backenbart und Plastiklatschen auf die Szene schlurft. Mit ihm, Francisco Camacho, sollen wir die nächsten achtzig Minuten verbringen. Stuart hat ihn in ihrem frühen Erfolgsstück "Disfigure Study" eingesetzt und dann nie mehr. Hier also kommt der Portugiese zurück, klein, und mit Backenbart, und ist gleichwohl gar nicht komisch.

    Mit seinem albernen automatenhaften Gang schafft er es Minuten nach Beginn des Stücks, an dem Pappkartonschwan vorbei und die Pappkartonhütte rechts liegenlassend bis zur Papp-Palme, an die er sich anlehnt. Da denken wir noch, sie wäre womöglich aus Sperrholz. Camacho schlurft so weiter, die elektronische Untermalung geräuscht so vor sich hin. Mal spreizt der Mann seine Zehen nach oben wie im Jivamukti-Yoga. Dann geht's weiter, unendlich geruhsam hinten um die Hütte herum, hinein in die Hütte, auf den einzigen Einrichtungsgegenstand derselben, einen Pappstuhl.

    Wer wird denn jetzt gleich denken, diese halbe Stunde sei langweilig gewesen! Dafür folgt nun aber ein hübsches Bild. In dicken gelben Schläuchen steigt unsichtbar das Wasser nach oben und regnet ganz fein und stetig aus einer für Gemüsebeete erdachten Bewässerungsanlage auf den waschbetonähnlichen Bühnenboden. Wenige Minuten später knickt die Palme ein und der Schwanenhals biegt sich wie betrunken zur Seite und dann schließlich gibt das Dach der Hütte nach. Da hat sich das also schon erledigt mit der wichtigen Installation von Doris Dziersk, die laut Programmheft im norddeutschen Stade geboren wurde (gibt es noch ein süddeutsches?) und in den "Bereichen Bühnenbild und Bildende Kunst arbeitet. Hier im Bereich Pappe und Wasser liegt ziemlich schnell alles flach, aber das passt, denn jeglicher Sinn liegt auch total K.o.-geschlagen am Boden.

    Das allerdings war auch bei Meg Stuarts letzten Stücken so, in denen noch mehr Design und Installation und Backenbärte vorkamen und auch durchsichtige Regenmäntel und weiße Männerunterhosen.

    Meg Stuart gilt als Expertin für körperliches Dauerzittern, das unbedingt umweltbedingte Beziehungsunfähigkeit signalisiert. Meistens ist die Welt ein Laboratorium oder eine abgewrackte Asylantenturnhalle oder ein Erdhügel - hm - oder ein riesiges Hamsterrad.
    Hier hingegen ist sie bloß platte Pappe und da es immer weiter regnet, bald platte Matschpappe. Falls das ein Urlaubsidyll hat sein sollen mit Palme und Schwan, so ist es jetzt ein von der Regenzeit unterspülter Slum. Unser Mann in Meg Stuarts Fantasiekalkutta setzt sich daraufhin eine rosa Brille und eine bunte Pompomperücke auf und legt sich ins Nasse wie weiland Goethe in die Campagna.

    Ich schwöre, bis zum Ende, gefühlte drei Tage und Nächte ohne Wasser und Brot später - aber ich hatte Bier mit auf die Hinterbühne geschmuggelt - gefühlte 72 Stunden später also war die Pappe immer noch nass und selbst der komische kleine Mann mit dem Backenbart aus Portugal hatte total das Interesse an der Sache verloren. Eine Japanerin, die fünf Minuten vorbeitanzte, fasste er nicht an. Ein Mann staffierte ihn mit Gebissen und Monstermasken und Pelzjacken aus. Irgendwann hatte aber die Doris aus Stade dann doch genug installiert hier so im Bereich Bühnenbild. Fand jedenfalls der komische kleine Mann aus Portugal und ging mit seinem Backenbart mal einfach so ab.