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Nationalheld im Vielvölkerstaat - Porträt zum 100. Geburtstag

Mesa Selimovic gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller des ehemaligen Jugoslawiens. Eines der zentralen Themen seines Erfolgsromans "Der Derwisch und der Tod" ist die komplizierte Identität der bosnischen Muslime zwischen slawischer und osmanischer Kultur.

Von Martin Sander | 22.04.2010
    Der Erzähler Meša Selimović ist so etwas wie ein bosnischer Nationalheld – und auch im Alltag nicht zu übersehen. Sein Konterfei zierte zum Beispiel den konvertiblen Fünf-Mark-Schein der Republik Bosnien und Herzegowina, bis dieser vor wenigen Wochen aus dem Verkehr gezogen und durch eine Münze ersetzt wurde. Aber auch Serbien erhebt Anspruch auf Selimović und hat ihn längst in den Kanon der serbischen Nationalliteratur eingeordnet. In der Tat stammt Selimović, der 1910 in der zentralbosnischen Stadt Tuzla geboren wurde, aus einer traditionsreichen muslimischen Familie. Doch in den späten Lebensjahren bekannte er sich unmissverständlich zur serbischen Nationalität und erklärte in einem Brief an die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste ausdrücklich, sein Werk sei als Bestandteil der serbischen Literatur zu betrachten. Womöglich war dies eine Trotzreaktion, meint Enver Kazaz, Literaturhistoriker und Selimović-Kenner der Universität Sarajevo.

    "Er hatte einen Konflikt mit den kommunistischen Machthabern gerade hier an der Philosophischen Fakultät in Sarajevo, wo er in den 1960er-Jahren trotz einer herausragenden Arbeit zur Sprachreform im 19. Jahrhundert nicht zum Professor berufen wurde. Die bosnisch-herzegowinische Partei hatte ihn in die Ecke gedrängt. Er beschreibt diese Situation ausgezeichnet in seinem späteren Roman "Die Festung", der vom Konflikt des Individuums mit einer furchtbaren Untertanengesellschaft handelt. Selimović ist dann praktisch nach Belgrad emigriert und hat seine Nationalität geändert. Diese Geschichte von der Änderung seiner Nationalität ist aber später zu sehr politisiert worden – und zum Teil auch verkitscht."
    Selimovićs bedeutendstes Buch ist sein 1966 erstmals im Original veröffentlichter Roman "Der Derwisch und der Tod", ein Roman, der bald für internationale Aufmerksamkeit sorgte und seinen Autor auf einen Schlag in den Kreis der Nobel-Preisanwärter rückte. "Der Derwisch und der Tod" ist ein vielschichtiger Text. Eines der zentralen Themen ist die komplizierte Identität der bosnischen Muslime zwischen slawischer und osmanischer Kultur, zwischen Europa und dem Islam.

    Mit niemand sonst hat die Geschichte so ihren Scherz getrieben wie mit uns. Bis gestern waren wir das, was wir heute vergessen wollen. Aber wir sind auch nicht etwas anderes geworden. Wir sind auf halbem Wege stehen geblieben, hilflos staunend. Nirgendwo können wir noch hin. Losgerissen sind wir, aber nicht woanders aufgenommen. Wie ein Flussarm, den eine Sandbank vom Fluß selbst, von der Mutter, getrennt hat, sodass er ohne Zufluß und ohne Mündung ist, zu klein, um ein See zu werden, zu groß, als dass ihn die Erde aufsaugte. Mit einem unklaren Gefühl der Scham wegen unserer Herkunft und der Schuld wegen unserer Abtrünnigkeit wollen wir nicht zurückschauen und haben doch auch nichts, worauf wir den vorausschauenden Blick richten könnten; deshalb versuchen wir die Zeit anzuhalten – aus Angst vor irgendeiner Entscheidung. ( ... ) Wir wollten uns bewahren, und so haben wir uns verloren. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind.
    "Der Derwisch und der Tod" spielt im Sarajevo des frühen 17. Jahrhunderts. Selimović erzählt die tragische Geschichte des Derwischs Ahmed Nurudin. Dieser Vorsteher eines islamischen Klosters, ist ein Aufsteiger aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen und steckt gegenüber der Obrigkeit voll loyaler Demut, bis er durch eine für ihn ungeheuere Begebenheit aus der Bahn geworfen wird. Korrupte Stadtobere haben seinen Bruder, weil er zu viel von ihren Machenschaften wusste, verhaftet und diesen Bruder, ohne dass Ahmed ihm beistehen konnte, umgebracht. Ahmed, der die Tragödie trotz zahlreicher Verbindungen zur höheren Gesellschaft nicht verhindern konnte, nimmt Rache mit einer kunstvoll eingefädelten Intrige. Der Derwisch wiegelt das Volk gegen seine Herrscher auf, vertreibt sie aus der Stadt und übernimmt selbst das höchste Richteramt. Die Welt verbessert er damit allerdings nicht. Im Gegenteil, er wird selbst zum Verräter seines besten Freundes und erweist sich am Ende nur als eine austauschbare Figur auf dem Schachbrett der ganz großen Spieler. Als ihm dies bewusst wird, begeht er Selbstmord.

    Selimovićs Geschichte aus dem osmanischen Bosnien ist auf einer weiteren Ebene zutiefst in der Gegenwart verankert. Der Autor setzt sich, wenn auch indirekt, mit den totalitären Strukturen in Titos Jugoslawien auseinander – und verarbeitet eine Erfahrung, die sein Leben geprägt hat. Der Selimović-Forscher Enver Kazaz erläutert den Hintergrund.

    "Selimović hatte keinen unmittelbaren Konflikt mit Tito. Er hatte aber einen Konflikt mit den kommunistischen Machthabern. Die ganze Familie hatte sich den Partisanen angeschlossen. Sie war also Teil der antifaschistischen Widerstandsbewegung. Eine erste negative Erfahrung mit dieser Bewegung verkörperte für Selimović die Erschießung seines Bruders. Der Bruder wurde kurz nach Kriegsende erschossen, weil er ein Bett aus dem kommunistischen 'Volkswarenlager' ausgeliehen hatte, um seine eigene Frau zu empfangen, die aus einem faschistischen Konzentrationslager zurückkehrte. Dafür wurde er erschossen. Und am Tag der Erschießung seines Bruders erhielt Meša Selimović von der Partei den Auftrag, vor einer Gruppe von Bürgern eine politische Rede zu halten. Diese Situation überträgt er in seinen Roman."
    Es ist eine Mischung von philosophischem Tiefgang und kriminalistischem Spürsinn, mit welcher der Erzähler seine Geschichte vorantreibt, um sie durch essayistische Reflexionen ins Stocken geraten zu lassen, ohne dass Spannung verloren geht. Im Mittelpunkt steht das Trauma des Individuums, das sich dem Druck der Masse ausgesetzt sieht und diesem Druck nicht immer widersteht.

    Es wurde unerträglich. Immer heißer, immer dichter, immer wahnsinniger; die Menge zerrte mich fort, die Menge wirbelte mich herum, als wäre sie Wasser und ich ein Holzspan, ein Splitter, sie riß mich in einen Strudel, ich stemmte mich mit dem Ellbogen gegen jemandes Rippen, ich schrie, und es schrien die anderen, ich trat auf jemanden, ein Sturzbach toste, ich taumelte, auch mich würden sie niedertreten, ich packte jemanden am Hals wie ein Ertrinkender, jetzt drängte das Wasser nach der anderen Seite, ertrinken würden wir, es toste durch eine andere Gasse, der Damm gab nach, ich atmete freier, ich rannte hinter den anderen her, versuchte sie aufzuhalten, sie zu beschwichtigen, Angst hatte mich gepackt, da sie doch nicht mehr wussten, wohin sie stürmten und was sie wollten, sie waren wie eine Steinlawine, wie ein unbändiger Sturzbach.
    Selimović vermeidet die billigen Effekte eines Schlüsselromans. Die bosnische Geschichte aus dem 17. Jahrhundert ist alles andere als nur Verkleidung aktueller Botschaften. Diese Geschichte offenbart vielmehr das komplexe Verhältnis des Autors zur Tradition des muslimischen Bosnien, die er verinnerlicht hat. Zugleich beleuchtet er sie kritisch und ironisch, was nicht zuletzt an willkürlich zusammengestellten Koranzitaten deutlich wird, die jedem Kapitel vorangestellt sind und letztlich alle heilige Weisheit ins Lächerliche ziehen.

    Wohl kaum jemand – ausgenommen Ivo Andrić – hat der Geschichte Bosniens soviel literarisches Leben eingehaucht und sie von innen heraus derart kritisch beleuchtet wie Meša Selimović, der 1982 als serbischer Autor in Belgrad starb. Darin liegt gerade heute viel Konfliktstoff für den von vielen nationalen Grenzen zerteilten Literaturbetrieb des ehemaligen Jugoslawien. Enver Kazaz, Literaturhistoriker an der Universität Sarajevo, wehrt sich dagegen, Selimović auf eine nationale Literatur zu reduzieren.

    "In seiner Tat sehe ich das Recht eines jeden Menschen, seine ethnische, religiöse oder sonstige Identität selbst zu bestimmen. Dieses Recht kann man auch Selimović nicht absprechen. Als Schriftsteller ist Selimović aber eigentlich ein Autor der gesamten südslawischen literarischen Gemeinschaft. Er ist eine Figur, die verbinden und nicht trennen sollte. Warum? Weil er den islamischen Geist und das islamische Empfinden mit westlichen atheistischen Kulturmustern verband, mit der existenzialistischen Philosophie und der ganzen politischen Kultur, die für die europäischen Literaturen von Orwell über Kafka und Bulgakov bis in die heutige Zeit charakteristisch ist."

    Man muss es dem Salzburger Otto-Müller-Verlag danken, dass er den großen Roman "Der Derwisch und der Tod" rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Meša Selimović neu aufgelegt hat. Eine deutsche Neuauflage wäre auch dem zweiten bedeutenden historischen Bosnien-Roman Selimovićs, der "Festung" zu wünschen. "Die Festung" konnte trotz ihrer gnadenlosen Herrschaftsanalyse und deutlicher Totalitarismuskritik einst in der DDR erscheinen, während sich auf dem "freien" deutschsprachigen Buchmarkt heute dafür kein Verlag findet. Das ist schon ein wenig bizarr.

    Meša Selimović: Der Derwisch und der Tod, Aus dem Serbischen von Werner Creutziger, Otto Müller Verlag Salzburg, Neuauflage 2009, 354 Seiten, 26,00 Euro.