
Für einige der Staats- und Regierungschefs war der 30. Juni der 8. Gipfeltag hintereinander. Und so unterschiedlich das Setting in Brüssel, in Elmau und in Madrid war, immer standen die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine im Mittelpunkt. Die stärksten politischen Beschlüsse wurden gestern im Kreis der NATO-Länder gefasst.
Das alte strategische Konzept aus dem Jahr 2010 kann endlich archiviert werden, das neue Dokument beschreibt die Lage mit Blick auf Russland und China unterschiedlich und angemessen, Russland wird als Bedrohung definiert, China als Herausforderung für Interessen, Werte und Sicherheit.
Norderweiterung noch nicht in trockenen Tüchern
Es wäre ein Wunder, wenn das Konzept über die nächsten zehn Jahre trägt. Die NATO sollte mit einer Aktualisierung nicht noch einmal so lange warten, bis noch gültige Einschätzungen wie Utopien klingen, Stichwort „strategische Partnerschaft mit Russland.“ Diese Idee hatte sich lange vor dem 24. Februar erledigt. Wichtiger aber sind die konkreten Folgen dieses Gipfels. Die Einigung zwischen der Türkei und den NATO-Aspiranten Schweden und Finnland wurde gefeiert und es stimmt, der nächste Schritt im Beitrittsverfahren kann nun gegangen werden. Doch wer die Gipfelbilanz von Präsident Erdogan am Nachmittag verfolgte, der ahnt, die Norderweiterung ist noch nicht in trockenen Tüchern.
Erdogan pocht auf die Erfüllung von Bedingungen vor einer Ratifizierung. Mit absolutem Vertrauen in das Abkommen hat sich der Generalsekretär weit aus dem Fenster gelehnt. Das gilt auch für seine Erwartung, die NATO werde Ende des nächsten Jahres über mehr als 300.000 Soldaten in erhöhter Bereitschaft für den Einsatz an der Ostflanke verfügen. Denn noch ist das Wunschdenken, und Enttäuschungen sind programmiert. Nicht zuletzt Deutschland plant mit seinem Modell der massiven Truppenverstärkung auf einer anderen Zeitachse. Und die Ukraine hat von alldem zunächst nichts, die NATO plant für die konsequente Verteidigung von Bündnisgebiet. Nicht mehr, nicht weniger. Zusätzliche Waffenlieferungen einzelner NATO-Staaten für die Ukraine wurden am Rande des Gipfeltreffens bekannt, doch die reichen nicht annähernd aus, um Kiew den notwendigen Schub zu geben, um das aktuelle militärische Blatt zu wenden.
Die Zeit läuft gegen die Ukraine
Noch verspricht der Westen, die Ukraine im Kampf gegen Putin so lange zu unterstützen wie nötig. Doch die Zeit läuft gegen die Ukraine, im zweiten Halbjahr werden sich die Krisen rund um Energie, Inflation und Pandemie in den EU und G7-Staaten zuspitzen. In den USA wird vor den Zwischenwahlen im November die Innenpolitik dominieren. Nach diesem Gipfelmarathon mag es für die Regierenden eine kurze Atempause geben. Mehr denn je sind und bleiben sie aber vor allem Krisenmanager!