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Neal Stephenson: "Amalthea"
Auf himmlischer Höllenfahrt

Es ist eine Katastrophe biblischen Ausmaßes: Der US-amerikanische Schriftsteller Neal Stephenson beschreibt eine Welt, nachdem der Mond zerstört wurde. Keine zwei Jahre haben die Menschen nun Zeit, zu retten, was zu retten ist. Stephensons Zukunftsroman ist sprachlich erfinderisch, wortschöpferisch, auf seine Art poetisch.

Von Hartmut Kasper | 12.06.2016
    Eine Halbschattenfinsternis des Mondes fällt kaum auf.
    In Stephensons Roman ist der Mond dann plötzlich weg. (STScI)
    "Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin", heißt es in einem alten Lied. "Deines Schöpfers weiser Wille hieß auf jener Bahn dich ziehn."
    Auch in diesem Roman spielt der Mond eine Hauptrolle, wenn auch eine tragische: "Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund. Er war im Zunehmen, zum Vollmond fehlte nur ein Tag. Die Zeit war 05:03:12 UTC. Später würde man sie als A + 0.0.0 oder schlicht Null bezeichnen.
    Ein Amateurastronom in Utah war der erste Mensch auf der Erde, dem klar wurde, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Augenblicke zuvor hatte er (…) in der Nähe des Mondäquators (…) eine Trübung entstehen sehen. Er nahm an, dass es sich um eine Staubwolke handelte, die von einem Meteoriteneinschlag herrührte. (…) Bis er sein Handy aus der Tasche gezogen hatte, gab es seinen Krater nicht mehr. So wenig wie den Mond." (Seite 9)
    Mondsüchtig war die Science Fiction eigentlich schon immer. Der Flug ins Weltall und die Reise zum Trabanten der Erde gehört zum Grundrepertoire der Zukunftsromane, ja, man könnte diesen imaginären Ausflug zum nächsten Himmelskörper als einen ihrer Grundpfeiler bezeichnen oder, etwas zeitgenössischer gesagt, als ihren Quellcode.
    Natürlich gehört auch die Zeitreise zur Basisausrüstung der utopisch-phantastischen Literatur; sie ist zugleich eine Metapher für diese Art von Literatur überhaupt, deren Programm es ja ist, sich in die Zukunft aufzumachen.
    Berichte aus kommenden Tagen waren bis dahin eher den religiös-inspirierten Texten vorbehalten. Gott als allwissender Erzähler konnte den Menschen ‒ direkt oder über einen schriftführenden Boten ‒ die letzten Dinge, die Geschehnisse am jüngsten Tag schon jetzt offenbaren, bevorzugt mit mahnendem Unterton:
    Demnach würde am jüngsten und am letzten aller Tage ein Fazit unseres Lebens gezogen, und unser Dasein hienieden hätte den Zweck, unsere Ewigkeitstauglichkeit im Jetzt und Hier auf die Probe zu stellen. Dem Endgeschehen selbst gehen gewisse Zeichen voran, bevorzugt Himmelszeichen.
    In der Apokalypse des Johannes kündigen vom nahenden Ende unter anderem ein brennender Berg, der ins Meer stürzt und Schiffe wie Menschen vernichtet; Feuer und Blut fallen vom Himmel; die Schalen des göttlichen Zorns werden über die Menschheit ausgegossen; die Menschen verbrennen, ihre Städte gehen unter, ihr Land verdirbt.
    Schließlich und endlich aber entstehen ein neuer Himmel und eine neue Erde. "Ich" - sagt der Seher Johannes im 21. Kapitel seiner Offenbarung ‒ "Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen. (…). Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu." So steht es geschrieben. Und eigentlich haben wir damit "Amalthea" nacherzählt, den über tausendseitigen Roman des großen US-amerikanischen Schriftstellers Neal Stephenson.
    Ein Geflecht aus Wissenschaft, Technik, Literatur und WorldWideWeb
    Nun gehört Stephenson nicht zu den evangelikalen Endzeitpoeten wie beispielsweise Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins, deren Endzeitschmonzette "Left behind" seit 1995 bestsellt und Kasse macht. Stephenson ist auch von Haus aus kein Prediger. Der Vater war Dozent für Elektrotechnik, die Mutter Biochemikerin. Er selbst hat zunächst Physik, danach Geografie studiert.
    Das private Raumfahrtunternehmen Blue Origin engagierte ihn als Berater. Dieses Unternehmen gehört Jeffrey Bezos, dem Mann, der Amazon erfunden hat.
    Am 2. April des Jahres 2016 landete eine Rakete von Blue Origin, das Antriebsmodul des Flugsystems New Shepard, nach dem Flug wieder auf der Erde ‒ senkrecht. In diesem Geflecht also, dort, wo sich Wissenschaft und Technik, Literatur und WorldWideWeb verbinden, dort und ziemlich kirchenfern bewegt sich Neal Stephenson, und dort bewegt sich sein Roman "Amalthea". Mit dem Mond ist es also aus.
    Möglich, dass ein anderer Himmelskörper den Erdtrabanten getroffen, durchschlagen, gesprengt hat ‒ irgendein Agens, dessen Eigenart nie geklärt wird. Vielleicht ein kleines, urzeitliches Schwarzes Loch auf seiner Wanderschaft durchs Universum.
    Was seine Zerstörung tatsächlich verursacht hat, bleibt rätselhaft bis ans Ende der Geschichte. "Die Stücke des Mondes blieben von der Schwerkraft gefesselt, eine Ansammlung riesiger Felsstücke, die chaotisch um ihr gemeinsames Gravitationszentrum kreisten." (Seite 11)
    Der Himmel jedenfalls hat sich verändert, und mit ihm die sublunare Geschichte.
    Mehr, als die Menschen zunächst ahnen ‒ schließlich sind sie der Deutung von Himmelszeichen etwas entwöhnt.
    Die Astronomen und Astrophysiker gehen an die Arbeit; manche sind näher am Geschehen als andere. Denn im Orbit um die Erde kreist die internationale Raumstation ISS ‒ oder Izzy, wie ihre Bewohner sie liebevoll nennen. Zu der Besatzung von Izzy gehört Dinah MacQuarie; das Kommando führt Ivy Xiao.
    Die sieben großen Fragmente des Mondes werden getauft. Sie heißen Potatohead und Mr Spinny, Eichel, Pfirsichkern, Schöpfkelle, Big Boy und Kidneybohne. Zusammen bezeichnet man sie als die "Seven Sisters", die "Sieben Schwestern". Zutrauliche Namen.
    Aber vom Mond sind nicht nur die sieben großen, steinernen Schwestern geblieben, sondern auch unzählige kleinere Bruchstücke ‒ Bruchstücke, die sich im Zuge zunehmender Kollisionen weiter zerlegen.
    Stephenson erinnert sich: "Die Idee für dieses Buch kam mir um das Jahr 2006, als ich in Teilzeit bei Blue Origin arbeitete und mich für das Problem des Weltraummülls in der erdnahen Umlaufbahn zu interessieren begann. Weltraumforscher hatten Befürchtungen geäußert, kettenreaktionsartige Zusammenstöße könnten so viele Fragmente von erdumkreisenden Splittern erzeugen, dass Weltraumflüge praktisch unmöglich würden. Während dieser Zeit war mir auch bewusst geworden, welche immensen Mengen verwendbarer Materie sich in erdnahen Asteroiden befinden." (Seite 1051)
    In der nahen Zukunft, in der Amalthea spielt, ist die internationale Raumstation eine Verbindung eingegangen mit einem dieser Asteroiden, mit Amalthea nämlich. Dieser Felsbrocken stammt ‒ auch in unserer Realität ‒ aus dem Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter. Entdeckt wurde Amalthea dort im Jahr 1871 von dem deutschen Astronomen Karl Theodor Robert Luther.
    Die Astronauten erkunden nun die Möglichkeit, den Asteroiden mithilfe von Robotern zu erschließen und industriell zu verwerten. Dennoch ist die ISS nicht mehr als ein ferner Außenposten der menschlichen Zivilisation im All. Und dieses Weltall ist zwar frei von invasionslüsternen Aliens, aber alles andere als eine Idylle. Der Raum ist menschen-, ja lebensfeindlich. Mal zu heiß, mal zu kalt, luftleer, von größeren und kleineren Eis- und Felsbrocken durchschossen wie ein dreidimensionales Schlachtfeld.
    Zu der Menge herumirrender Brocken kommen nun die Unmengen von Mondtrümmern, die sich durch Zusammenstöße zunehmend vermehren. Wozu soll das führen? Das fragt sich auch Dr. Harris, ein Astronom und Populärwissenschaftler. Sozusagen der Professor Lesch dieses Romans. "Wir müssen aufhören, uns zu fragen, was passiert ist, und stattdessen darüber reden, was passieren wird", sagte Dr. Harris zur Präsidentin der Vereinigten Staaten (…) Julia Bliss Flaherty." (Seite 39)
    Menschen haben nur die Chance, sich selbst zu retten
    Was aber geschehen wird, ist dies: Die Mondtrümmer werden weiter kollidieren, sich zu kleineren Brocken zermahlen, schließlich auf die Erde stürzen:
    "Es wird zu einem Meteoritenbombardement kommen, wie es die Erde seit Urzeiten, als das Sonnensystem entstand, nicht mehr gesehen hat (…). Diese Feuerspuren, die wir in letzter Zeit am Himmel sehen, wenn die Meteoriten herunterkommen und verglühen? Davon wird es so viele geben, dass sie zu einer einzigen Feuerkuppel verschmelzen, die alles unter sich in Brand setzen wird. Auf der gesamten Oberfläche wird es keinerlei Leben mehr geben." (Seite 43)
    Der Apokalyptiker Johannes hat es ja kommen sehen. Dr. Harris nennt dieses Phänomen den "Harten Regen", und es ist kein rasch vorübergehendes Weltende-Wetter: 5000 Jahre soll der tödliche Niederschlag anhalten.
    "Die einzige Möglichkeit zu überleben ist, von der Atmosphäre wegzukommen. Unter die Erde oder ins All zu gehen." (Seite 43)
    Keine zwei Jahre nun haben die Menschen Zeit, zu retten, was zu retten ist. Die Erde selbst gehört nicht dazu. Der Versuch, sich vor dem Bombardement durch den Harten Regen für 50 Jahrhunderte in der Erde zu verkriechen, scheint aussichtslos.
    Womit die Raumstation ISS in den Mittelpunkt rückt. Das fragile Gebilde, zusammengebastelt über die Jahre und immer noch ein enges Provisorium, wird zum letzten Refugium der Menschheit.
    Die Vorbereitungen beginnen, und sie werden grausam. Von den Milliarden Menschen können nicht einmal zweitausend ins Weltall gerettet werden. Auswahlprogramme laufen an; die Weltwirtschaft wird auf die Produktion von Raketen und Rettungskapseln umgestellt, auf Anbauten für die ISS. Genmaterial von Tieren wie von Menschen wird gesammelt, tiefgefroren oder digitalisiert und dann gespeichert.
    Vorräte werden ins All befördert; auf der Erde werden Tabletten verteilt, die, wenn der Harte Regen einsetzt, den Zurückbleibenden einen raschen, schmerzfreien und in diesen Grenzen selbstbestimmten Tod gewähren.
    Ein südamerikanischer Staat, Venezuela, fühlt sich vom Auswahlverfahren benachteiligt, setzt seine Flotte in Richtung auf die Abschussrampen des Weltraumbahnhofs von Kourou in Marsch. US-Präsidentin Julia Bliss Flaherty reagiert mit einem Nuklearschlag.
    Aus dem All betrachtet, aus der Perspektive der ISS, gerät auch das zu einer Randerscheinung. Die Werte verwischen sich im Feuerregen wie die Grenzen der Länder und Erdteile.
    Wir und unsere Lust an der Zerstörung sind von Hollywood angefüttert; kaum ein Endzeit-Blockbuster, in dem nicht Straßenzüge, Städte, Kontinente bildgewaltig in Schutt und Asche gelegt werden. Bis dass die Superhelden der Geschichte dann doch noch die alles entscheidende, rettende Wendung geben. Die Helden dieser Geschichte sind nicht super.
    Die ISS als neue Arche Noah
    ISS-Kommandantin Ivy Xiao und Dinah MacQuarie und die anderen etwa 1.500 Männer und Frauen an Bord der erweiterten Raumstation erleben das Inferno distanziert. Sie sind eingehüllt in ihre technischen Kapseln und ihr technisches Verständnis der Dinge, ihren Intellekt, der ihnen den Zutritt verschafft hat in diese Arche.
    Denn da wir hier eine Katastrophe im biblischen Ausmaß erleben, ja, eine biblische Katastrophe, da der Harte Regen nichts anderes ist als die wiederkehrende Sintflut, diesmal über die Erde ausgeschüttet nicht von einem zürnenden Gott, sondern von einem anonymen Agens, da dies so ist, verwandelt sich die ISS in eine neue Arche Noah.
    Genauer: In die sogenannte Cloud-Arche, ein komplexes Mit- und Durcheinander von Behältnissen, in die die letzten Menschen sich geflüchtet haben. Die vielen einzelnen Kapseln, die Sub-Archen, fügen sich zu Triaden oder Heptaden zusammen, alles so noch nie da gewesen, dass dem Buch die eine oder andere Illustration beigegeben ist, um den Ort des Geschehens ein wenig vorstellbarer zu machen. Oder um künftigen Regisseuren einer Verfilmung erstes Anschauungsmaterial an die Hand zu geben.
    Wir Leser sehen keine Panikszenen. Wir hören vom Untergang der Städte, von der Auslöschung Manhattans etwa oder Tokios nur lapidar. "Paris ist weg, simste sie. (Seite 380)
    "Die Erde sah aus, als hätte ein Gott sie mit einem Schweißbrenner angegriffen, sie aufgeschlitzt und dünne Glutspuren hinterlassen. Einige waren rot und stetig: Dinge, die auf der Erde brannten. Andere waren von blendendem Bläulich-Weiß und flüchtig: von Meteoriten durch die Atmosphäre gezogene Spuren." (Seite 388)
    Nach dem Ende aller Nationen gibt es nur noch die Menschheit, diese verlorene Gruppe im All, verteilt auf die ISS und die kleineren fliegenden Mobile Homes ‒ die Welt nach dem Weltende.
    Auf himmlischer Höllenfahrt
    Von der biblischen Arche wissen wir gerade mal die Maße: 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch. Stephenson beschreibt seine neue Arche mit der Liebe des Ingenieurs. Jedes Detail der Cloud-Arche wird sprachlich unter ein Mikroskop gelegt, benannt, bedeutet, erklärt.
    Stephensons zerbrechlicher Kosmos ist sprachlich erfinderisch, wortschöpferisch, auf seine Art poetisch. Der Text quillt geradezu über von Neologismen, von neuen Wörtern für die Dinge der neuen Welt: Stabev und der Große Sprung, die Weiße Sub-Arche, Flitzer-Alarm und Verp, Spacebook und PONTEC.
    Aber diese neue Arche schwimmt nicht sicher wie einst Noahs Kasten auf den Fluten. Ihre Reise gerät zu einer himmlischen Höllenfahrt. Nicht nur die Bruchstücke des Mondes gefährden sie, beschädigen sie und kosten Opfer. Irgendwie hat es auch noch ‒ illegal und gegen jede Vereinbarung ‒ die amerikanische Präsidentin an Bord geschafft. Sie betreibt Politik und stiftet Unfrieden.
    Eine Revolte kostet Menschenleben; eine Fraktion, die zum Mars aufbrechen und dort eine neue Heimat aufbauen will, scheitert; ein Teil der Besatzung stirbt, als man einen Eisbrocken einfangen und als Wasserreservoire andocken möchte. Es kommt zu Kannibalismus. Sonneneruptionen töten ungeschützte Passagiere.
    Kurze Zeit, nachdem die letzten Überlebenden endlich eine Zuflucht gefunden haben ‒ sie landen in einer Schlucht auf einem Bruchstück des Mondes ‒, besteht die gesamte Menschheit nur noch aus acht Frauen. Sieben davon im gebärfähigen Alter. Dies sind die sieben Evas ‒ Seveneves. So lautet übrigens auch der Originaltitel des Romans. Damit endet der zweite von drei Teilen.
    Und es folgt einer der spektakulärsten Zeitsprünge der Literaturgeschichte: Teil 3: 5000 Jahre später. Vor 5000 Jahren ‒ von heute aus gerechnet ‒ begann die Bronzezeit. In der nun ferneren Zukunft von Amalthea hat die Menschheit den Weltraum besiedelt. Im Orbit um die Erde kreist ein Ring von künstlichen Habitaten, Heimstatt für drei Milliarden Menschen. Dort leben die Nachfahren der sieben Urmütter, die neue Ethnien gegründet haben. Es gibt neue Gesten, neue Verhaltensweisen, sogar neue Wissenschaften.
    Aber insgesamt ist diese orbitale Welt der unsrigen gar nicht so unähnlich. Auch in der Orbitalstadt gibt es Generalstreiks und Polizeikräfte, Aktienmärkte und Immobilienmagnaten und es wird über hohe Mieten geklagt. In Medien, die verblüffend unseren TV-Geräten ähneln, läuft das Epos ‒ eine Art Dokumentation der Menschheitsgeschichte im Weltall.
    Die Erde wurde von den Himmelsmenschen mit Wasser versorgt, mit einer Atmosphäre versehen, begrünt und mit Tieren bevölkert, die aus dem digitalisierten Erbgut rekonstruiert worden sind. Ein neuer Garten Eden? Eher nicht. Die Zukunftsmenschen haben bereits zwei Kriege auf dieser neuen Erde ausgefochten. Und sie haben entdeckt, dass es hier noch zwei weitere Gruppen von Überlebenden gibt: Eine Art, die die fünf Jahrtausende im Erdreich verbracht haben; eine andere Gruppe verdankt ihre Existenz U-Boot-Fahrern.
    Wäre man das Agens, das einst den Mond gesprengt hatte, könnte man sich zynisch fragen: Hat sich diese Sprengung eigentlich gelohnt?
    Stephensons in jeder Hinsicht phantastischer Roman ist eines der bestdurchdachten Werke utopischer Literatur. Seine Figuren haben Charakter; seine technischen Landschaften wirken plastisch und wirklichkeitsgetreu; sein Weltraum ist so kalt, abweisend und frei von jeder Romantik, dass er beim Lesen frösteln macht.
    Und es gehört zu der Größe dieser Erzählung, dass sich ihre Figuren auch Gedanken über den Sinn des Ganzen machen, den Zweck: "Menschen haben immer (…) lieber geglaubt, es gebe einen Zweck für das Universum. Bis der Mond explodierte, hatten sie Theorien. Nach Null erschienen die Theorien irgendwie naiv. Märchen für verhätschelte Kinder. Ein paar Tausend Jahre dachte niemand an das große Ganze. Wir kämpften alle ums Überleben. (…) Über das Agens wurde erstaunlich wenig nachgedacht. Woher es kam. Ob es natürlich oder künstlich war, oder gar göttlich."
    "Es ist also wie der Glaube an Gott." "Vielleicht ja. Aber ohne die Theologie, die Schriften, die sture Gewissheit." (Seite 1049)
    Johannes hat uns einen neuen Himmel versprochen und eine neue Erde. Wenn ich die Menschen jener fernen Tage richtig verstehe, von denen Stephenson erzählt, müsste es wenn schon keinen neuen Gott geben, so doch eine neue Art, über ihn zu denken: ohne Gewissheit.
    Neal Stephenson: Amalthea. Roman
    Manhattan, / Wilhelm Goldmann Verlag München 2015, 1056 Seiten, 29,99 EUR