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Neapolitanische Arien
Vergessene Parade-Stücke der Kastraten

Die neueste Solo-CD des Countertenors Max Emanuel Cencic, die jetzt beim Label DECCA erschienen ist, trägt - frei nach Caruso - den Titel "Arie Napoletane". Diese "Neapolitanischen Opernarien" haben es in sich: Es sind fast durchweg Weltersteinspielungen, die zusammen mit dem italienischen Ensemble Il Pomo d'Oro unter der Leitung des jungen russischen Dirigenten und Cembalisten Maxim Emelyanychev verwirklicht wurden.

Von Christiane Lehnigk | 18.10.2015
    Der kroatische Countertenor Max Emanuel Cencic (rechts) in der Rolle des Siroe in der Oper 'Siroe,König von Persien' des deutschen Komponisten J. A. Hass im Vigszinhaz Comedy Theatre, in Budapest, 17 April 2015, am Premierenabend. Links im Bild: Der spanische Tenor Juan Sancho.
    Der kroatische Countertenor Max Emanuel Cencic (rechts) hat für sein neues Album elf Arien eingesungen. (picture alliance/MT/Zsolt Szigetvary)
    Bereits mit der ersten Arie, die Max Emanuel Cencic in Begleitung des kongenialen Ensembles Il Pomo d'Oro unter der Leitung von Maxim Emelyanychev singt, wird es offenbar, dass es sich hier um Musik mit Suchtfaktor handelt. Dies ist eine der typischen virtuosen heroischen Arien, mit denen der neapolitanische Opern-Komponist Nicola Porpora seine Starkastraten ausgestattet hatte, die schon das damalige Publikum zur Raserei brachten. Auf die Handlung kam es bei den zumeist weit über drei Stunden dauernden Opern nicht unbedingt an, bei den Rezitativen wurde sich oft unterhalten, der Lärmpegel im Theater war hoch. Es war eher ein sportliches Kräftemessen der Sänger in den Arien, wobei sich Kastraten mit Sopranistinnen und Alt-Kastraten mit Sopran-Kastraten regelrecht musikalisch duellierten. Für Porpora arbeiteten gleich mehrere große Gesangskünstler seiner Zeit, Senesino, Caffarelli und Farinelli, für den diese Partie geschrieben war.
    Die Kunst dieser Sänger ging unwiderruflich verloren, doch dass man ihr nachspüren kann und eine Ahnung davon bekommt, wie diese Musik, die die überaus produktiven Opern-Komponisten in Venedig und Neapel geschrieben haben, klang, das ist nicht zuletzt Max Emanuel Cencic zu verdanken. Er hat es durch seine besondere Stimmtechnik, die ihn über den Stimmbruch rettete, vermocht, gerade diesen Partien in den Helden-Geschichten männliche Kraft und mühelose Virtuosität zu verleihen. Es gibt wohl kaum etwas Anspruchsvolleres als diese Kastraten-Partien in den italienischen Opere serie im 18.Jahrhundert.
    Auf der Suche nach vergessenen Arien
    Cencic und Philippe Jaroussky haben einen großen Anteil daran, dass inzwischen ein wahrer Hype um Countertenöre entstanden ist, sie werden inzwischen wie ihre Gesangskollegen als Stars vermarktet, und es rückt immer wieder eine neue Generation nach, der die Technik noch leichter zu fallen scheint, deren Ausbildung noch perfekter ist. Doch anstatt diese jungen aufstrebenden Diven als Konkurrenz zu empfinden, haben Cencic und seine Agentur Parnassus Arts Productions die Situation umgekehrt. Sie suchen und fördern den internationalen Nachwuchs nun selbst und dazu gehört auch das Erkunden eines immer neuen Repertoires, das Ausgraben vergessener Opern, die zu den Parade-Stücken der Kastraten im 18. Jahrhundert gehörten.
    Elf Arien von Porpora, Vinci, Scarlatti, Leo und Pergolesi hat Cencic hier zusammengestellt, dabei geht es ihm nicht um eine bloße Aneinanderreihung von virtuosen Bravourstückchen, sondern vielmehr um die Auslotung dessen, was in der neapolitanischen Oper zu Beginn des 18. Jahrhunderts alles geboten wurde. Da gibt es natürlich die üblichen Wut- und Rache-Arien, aber nicht zuletzt sind es auch die langsamen, emotionsgeladenen und spannungsvollen Arien, quer durch die Register, in der sich die Stimme von Cencic unangestrengt entfalten kann, wie etwa in der Arie des Arconte "Miei pensieri" aus der Oper "Il prigioniero fortunato" von Alessandro Scarlatti. Bei der Besetzung der Arien wurde sich um möglichst große Farbigkeit bemüht.
    Instrumentales Spitzenensemble
    Max Emanuel Cencic arbeitet mit den renommiertesten Ensembles zusammen, schließlich hat er, der schon ein Kinderstar war, seine Karriere als Countertenor seit fast 15 Jahren kontinuierlich aufgebaut. Aber das erst 2012 gegründete, in Venedig beheimatete Ensemble Il Pomo d'Oro gehört zu den besten Formationen für diese Musik, es ist absolut stilsicher in der Phrasierung, sensibel in der Begleitung, unangestrengt im Duktus und mit einer federnden Leichtigkeit, die man gerne italienischen Musikern auf historischem Instrumentarium attestiert.
    Der Name "Der Goldene Apfel", ist dem Titel einer bombastischen Oper von Antonio Cesti aus dem Jahre 1666 entnommen, einer der aufwendigsten Produktionen des damals noch jungen Genres, mit einem riesigen Feuerwerk, Pferdeballett, 50 Sängerpartien (darunter neun Kastraten), unzähligen Bühnen-Effekten und einer Gesamtdauer von über zehn Stunden.
    Bei diesem Programm mit neapolitanischen Arien aus der Hochzeit dieses Repertoires hat Cencic wieder eine Reihe vergessener Werke ausgegraben, die nur einen Bruchteil des Vorhandenen aufzeigen, gereicht hätten seine Entdeckungen für mindestens zehn CDs. Es gibt also noch viel aufzuspüren in neapolitanischen Archiven, nicht nur im Bereich Oper, sondern auch in der geistlichen Musik.
    Geschmack und Stilsicherheit
    Außer dem kraftvollen unnachahmlichen Timbre der hohen Alt-Stimme von Cencic sind es immer auch seine geschmackvollen Phrasierungen, seine stilvoll und wohldosierten verzierten Da-Capo-Teile, die faszinieren und diese virtuose Musik so nicht als bloße Artistik erscheinen lassen. Und: Man kann bei ihm immer sicher sein, dass solch ein CD-Programm nicht irgendwie aus vielen Takes zusammengeschnitten ist, er bringt das auch live auf der Bühne. Gutes Handwerk eben, wie es Cencic bezeichnen würde. Das Weihnachtsgeschäft auch auf dem Schallplattenmarkt hat inzwischen begonnen, für Liebhaber barocker Opern jedenfalls sollte an dieser CD kein Weg vorbeiführen.