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Nele Hertling über die Tanzgeschichte
Von der Spitze in den Körper

Klassisches Ballett zeigt für die Tanz-Expertin Nele Hertling die "Ablösung von der Erdenschwere" – durch hohe Sprünge und den Spitzentanz. Ganz anders suche der Ausdruckstanz das Bodenständige. Die frühen Weimarer Jahre bringen für Hertling die Wende: Noch vor der Bildenden Kunst sah der Tanz die Notwendigkeit, Selbstgefühltes auszudrücken.

Nele Hertling im Gespräch mit Karin Fischer | 09.08.2019
Am 5. Oktober 2009 zeigte die Truppe von Pina Bausch in Kairo die Tanzstücke "Le Sacre du Printemps" and "Bamboo Blues"' in Kairo.
Die Truppe von Pina Bausch bei einem Gastspiel in Ägypten 2009 (EPA/Mohamed Omar/ dpa/picture-alliance)
Karin Fischer: Die Tanzgeschichte ist nicht ganz einfach zu fassen, denn vor dem Videozeitalter gab es nur sehr komplizierte und auch oft sehr individuelle Aufschreibesysteme für Choreographie. Heute zählt die Rekonstruktion des Tanzerbes zum öffentlich geförderten Kulturgut, und selbst der zeitgenössische Tanz ist schon museal geworden: Sowohl Pina Bausch als auch William Forsythe, eine Choreographin und ein Choreograph, die in Deutschland Tanzgeschichte geschrieben haben, sind schon in Form von Ausstellungen gewürdigt worden. Der Mensch tanzt wahrscheinlich, seit es ihn gibt. Wir wollen uns im Rahmen unserer Gesprächsreihe "Wendepunkte: Vorher – nachher" aber nun auf die jüngere Tanzgeschichte kaprizieren. Ich sprach darüber mit Nele Hertling, Tanzexpertin und Kulturmanagerin in Berlin, und zunächst habe ich gefragt: Wenn man es auf die einfache Formel "Von der Spitze auf die Ferse in den Körper" bringt, liegt man vermutlich nicht so falsch?
Nele Hertling: Nein, wenn man über die neuere Tanzgeschichte spricht, liegt man damit gar nicht falsch, denn das ist natürlich in der Tat, wenn Sie von Wendepunkten sprechen, das ist natürlich ein Wendepunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen.
Fischer: Wir fangen ein bisschen früher an, lassen aber für diese Unterhaltung den religiösen Tanz, den Volkstanz und das höfische Zeremoniell mal links liegen. Auch wenn man vermerken muss, dass das Ballett seinen Ursprung als Teil der höfischen Musikdarbietungen hatte. Der reine Tanz, also das Handlungsballett, entwickelte sich dann im 17. Jahrhundert, und der Spitzentanz erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Was sind in Ihren Augen, Frau Hertling, die fruchtbarsten Wendepunkte dieser früheren Tanzgeschichte?
Spitzentanz ist "Streben in eine höhere Sphäre"
Hertling: Es ging da natürlich in der späteren Phase des Balletts – und Sie haben es angedeutet –, es ist natürlich eine Form des höfischen Kulturlebens gewesen, und daraus hat es sich entwickelt. Der Spitzentanz ist natürlich dieser Ausdruck des möglichst Nach-oben-strebens, des Sich-vom-Boden-abhebens, und das hat dann in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, aber auch schon davor, eine extreme technische Brillanz hervorgebracht und Stücke, die unvergessen sind, auch aus dem Ballettrepertoire, und das ist natürlich auch etwas, was immer noch die Basis für vieles ist, was heute Tanz bedeutet.
Fischer: Aber was ist die Philosophie dahinter, dieses höheren Strebens, dieses Durchgedrückten, dieses Auf-der-Spitze, dieses fast mathematisch abgezirkelte Bewegungsrepertoire?
Hertling: Es ging eigentlich, wenn man es kurz fassen will, um das Prinzip reiner Schönheit und der Leichtigkeit, des nicht mehr Bodenverhafteten. Sondern die Männer sprangen so hoch sie konnten, die Frauen gingen auf die Spitze: die Ablösung von der Erdenschwere und das In-den-Himmel-streben als in eine höhere Sphäre, das natürlich dann nur möglich auf der Basis von höchster technischer Brillanz.
"Tanz immer ein Ausdruck der Zeit"
Fischer: In Paris lag ein Schwerpunkt dieser Tanzkunst, der dann von Russland, also den berühmten Ballets Russes, abgelöst wurde. Was war deren sozusagen eigenständige Erfindung?
Hertling: Eigenständig vielleicht eher dann auch der inhaltliche Bezug, denn auch das muss man sagen, Tanz ist natürlich immer ein Ausdruck der Zeit, in der er entsteht, und so sind natürlich dann nicht nur die Formen Ballett oder freier Tanz, sondern das, was die Tänzer damit ausdrücken wollen. Zu den Ballets Russes gehörte dann auch – und das ist dann ein ganz großer Wendepunkt – beispielsweise Nijinsky, oder es gehörte die Vertanzung von Strawinskys "Sacre" dazu, auch Nijinsky. Da macht sich dann schon mal eine ganz andere Haltung, ästhetischer, aber dann auch inhaltlicher Form bewusst und deutlich und ist dann in gewisser Weise durch die zeitlich bedingte Ausdrucksform schon ein Weg dann auch zum neuen Tanz, zum modernen Tanz.
Fischer: Genau, denn in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Ausdruckstanz schwer in Mode, also die Wende zum natürlichen Ausdruck, wie der Name schon sagt.
Hertling: Ja, der berühmteste Name aus der Zeit ist sicher Mary Wigman. Es war der Versuch, sich von allen Fesseln ästhetischer, formaler Art zu lösen und sich wirklich in einem ganz anderen Bewusstsein über den Körper, über den Körper des Tänzers einen Ausdruck zu erschaffen, der wirklich ganz andere Inhalte, ganz andere Impulse aus der Zeitgeschichte aufnahm. Man darf nicht vergessen, sie sind dann auch geprägt natürlich von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Notwendigkeit, im Tanz auch etwas auszudrücken, was weit entfernt ist von dem Bedürfnis des Balletts nach reiner ästhetischer Schönheit. Hier geht es dann wirklich um den Ausdruck von etwas, was die Menschen selbst gefühlt haben und im Tanz sich begegnen ließen.
Ausbruch aus der Konvention im Tanz noch vor der Bildenden Kunst
Fischer: Isadora Duncan steht dafür, Mary Wigman haben Sie erwähnt, die in Deutschland arbeitete. Dresden war der Ort des Ausdruckstanzes. Hier war auch Gret Palucca, und Kurt Jooss sollten wir erwähnen als vierten Namen in dieser Reihe. Was haben sie für die Tanzgeschichte geleistet?
Hertling: Sie haben in der Tat die Loslösung, den Wendepunkt in ein großes Publikum vom Ballett zum freien Tanz geschaffen, und das ist bis heute die Basis für alles das eigentlich. Was heute zeitgenössischer oder moderner oder freier Tanz genannt wird, basiert im Grunde genommen immer noch auf diesem Aufbruch und Ausbruch aus der Konvention. Das Interessante ist, dass das gerade in Deutschland auch die Tänzer waren, die diesem Zeitimpuls zuerst Ausdruck gegeben haben, eigentlich noch vor den Bildenden Künstlern. Kandinsky beispielsweise folgt Mary Wigman und den Erfahrungen der Tänzer in der Loslösung von einer Form, die bis dahin so bestimmend war.
Fischer: Nach dem Krieg war diese Form des Tanzes, in Deutschland zumindest, etwas verpönt, weil irgendwie auch verstrickt in diese böse Zeit. Wie kam das denn?
Hertling: Das ist ein schwieriges Kapitel. Choreografinnen, Tänzer wie Mary Wigman, wie Gret Palucca, wie Harald Kreutzberg haben am Anfang geglaubt, dass die faschistische Ideologie von Blut und Boden eigentlich ihren eigenen Vorstellungen von Freiheit, Tanz in der Natur, Tanz barfuß, Tanz ohne Tutu, dass ihnen das eigentlich entgegenkam, und sie haben sich durch den, wenn man so will, historischen Zufall der Olympiade '36 davon reizen lassen und sind in diese Feiern zur Olympiade eingestiegen mit dem Glauben und der Hoffnung, hier eine neue Förderung und ein neues Verständnis für ihre Art von Tanz gefunden zu haben. Das hat sich sehr schnell dann als Irrtum erwiesen. Aber die Verstrickung ist nicht ganz unerheblich, sodass nach dem Krieg in der Tat die Rückkehr zu der Idee eines zeitgenössischen Ballettes eine stärkere Beachtung und Förderung gefunden hat und es eine ganze Weile gedauert hat, bis der freie, sogenannte expressionistische Ausdruckstanz dann wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist, dann natürlich auch durch die Erfindung des Tanztheaters, das dann wieder die Idee der Aufnahme von inhaltlichen, politischen, sozialen Fragen ganz stark nach vorne geholt hat.
Fischer: Genau, man wartete förmlich auf diesen Aufbruch, der dann kam mit Pina Bausch und dem Tanztheater, das auf seine Weise ja auch der kürzlich verstorbene Johann Kresnik verkörpert hat.
Hertling: Ganz sicher, auf eine sehr radikale Weise, aber unbedingt zu erwähnen, gerade wenn man auch über Berlin spricht, sind Choreografen und Tänzer wie Gerhard Bohner, aber natürlich dann auch die Kolleginnen von Pina Bausch, wie Reinhild Hoffmann, Susanne Linke, also das ist eine große lange Liste von bedeutenden Choreografinnen und Choreografen, die dann nach dem Krieg vor allem auch ausgehend von Kurt Jooss und der Folkwang-Schule in Essen eine neue Form des Tanzes, eben des Tanztheaters, geschaffen haben.
"Für die Opernhäuser eine Bedrohung"
Fischer: Und wie kam die Politik in dieses neue Tanztheater rein?
Hertling: Eigentlich ganz von alleine. Ich nehme mal das Beispiel Gerhard Bohner, der in den 60er-Jahren Solist an der Deutschen Oper war und selber schon choreografiert hat und der mitten in die Studentenunruhen der 68er-Jahre hineingekommen ist und versucht hat, mit tänzerischem Ausdruck eigentlich das wiederzugeben, was ihn bewegt hat, was er auf der Straße erlebt hat, und das ist dann – und das ist nur ein Beispiel für viele – von den Opernhäusern wirklich abgelehnt worden. Bohner beispielsweise ist daraufhin gekündigt worden. Das war für die Opernhäuser eine Bedrohung ihrer doch immer noch sehr traditionellen, strukturellen Ballettform. Hier hat ein wirklicher Prozess auch politischer Auseinandersetzung angefangen, sehr stark auch in Köln im Tanzforum Köln, dass dort wirklich Politik in den Stücken eine sehr deutliche Rolle spielte und am deutlichsten natürlich bei dem von Ihnen erwähnten Hans Kresnik, der unter anderem ja ein Stück über die Meinhof gemacht hat, wo wirklich Politik und Ausdruck im Körper zu einem verschmolzen waren.
Fischer: Und wenn ich es noch mal zusammenfasse, in den USA hieß diese Entwicklung Modern Dance, eine etwas andere als bei uns, aber im Prinzip ist es so, dass der klassische Spitzentanz mit seinen Spannweiten, Sprunghöhen und fast akrobatischen Hebefiguren im Grunde das geworden ist, was die Welt heute ja auch ist, in gewisser Hinsicht zersplittert, angereichert mit allen möglichen Kunstformen und auch bodennah, wenn man es so sagen will.
Hertling: So kann man es sagen, und was dazugehört, vielleicht nur noch zu erwähnen, es gibt – und das gab es in den Jahrhunderten davor nicht – wirklich die Entdeckung des Körpers, in dem sich dann auch die Tanzgeschichte eingeschrieben hat und der Körper, der wirklich zum Archiv eigentlich von Tanz, Tanzgeschichte geworden ist und damit auch eine gewisse Kontinuität der Präsentation ermöglicht, denn Tanz ist eine sehr flüchtige Form und ist sehr selten, aus technischen, aber auch anderen Gründen, dokumentiert worden, aber im Körper des Tänzers ist diese Geschichte eigentlich erhalten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Kulturmanagerin und Tanzexpertin Nele Hertling bei einer Pressekonferenz 2012
Die Kulturmanagerin und Tanzexpertin Nele Hertling (dpa / picture alliance / Claudia Esch-Kenkel)
Nele Hertling ist Tanz-Expertin und Kulturmanagerin in Berlin. Sie brachte den zeitgenössischen Tanz an die Akademie der Künste. Als Intendantin des Berliner Hebbel-Theaters (1988 bis 2003) etablierte sie ein starkes europäisches Veranstalternetzwerk, präsentierte die flämische und französische Tanzavantgarde und gründete das Festival "Tanz im August". 2018 wurde sie mit dem Deutschen Tanzpreis geehrt.