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Nell Zink: "Virginia"
Schwarz mit weißer Hautfarbe

In Nell Zink komödiantischem Roman „Virginia“ erweisen sich alle vermeintlich klaren Identitäten als vollkommen unklar: schwul ist nicht nur schwul, lesbisch kann auch hetero, schwarz kann blond sein. Eine rasanter Gang über die Kirmes des amerikanischen Südens in den 1960er und 1970er Jahren.

Von Paul Stoop | 22.05.2019
Zu sehen ist die Autorin Nell Zink und das Cover ihres Romans "Virginia".
Nell Zink: „Virginia“ (Autorenfoto: Fred Filkorn/ Cover: Rowohlt)
Nell Zinks neuer Roman hat einen originellen Titel: "Mislaid", also etwa: "verlegt". Ob Rasse, Klasse oder Geschlecht – nichtsbe findet sich am angestammten Platz. Der deutsche Titel "Virginia" deutet noch nichts an. Er nennt schlicht den Ort der Handlung, wo in den 1960er Jahren alles noch in Konventionen erstarrt schien.
Aber auch in dieser Gegend lebten ungewöhnliche Charaktere. Der aus einer berühmten Familie stammende Dichter und College-Dozent Lee Fleming ist eigentlich schwul. Seine mäßig ambitionierte Studentin Peggy ist eigentlich lesbisch. Aber das heißt erst mal nichts. Spontan taumeln die beiden in eine Beziehung und gründen eine Familie. In Peggys Rückschau liest sich das so:
"Lee war einmal sexy für sie gewesen. Aber nicht, weil sie eine Beziehung gehabt hatten. Eher im Gegenteil. Eben weil sie keine Beziehung gehabt hatten. Und dann wurde sie blöderweise seine Partnerin. Sie verschwendete ihre Liebe an einen Wolf."
Eine Rassen-Farce
Lees gutsherrliche Art und seine Seitensprünge treiben Peggy nach zehn Jahren aus dem Haus. Sie lässt den Sohn Byrdie zurück und flieht mit ihrer Tochter Mireille in die noch tiefere Virginia-Provinz. Mit einer erschlichenen Geburtsurkunde verschafft sie ihrer blonden Tochter eine neue Identität. Und nicht nur das. Karen, wie Mireille nun heißt, ist offiziell schwarz, weil das eben amtlich so dokumentiert ist. Folglich ist auch ihre Mutter Peggy schwarz. Die nennt sich nun Meg.
Um seine Tochter zu finden, heuert der verlassene Lee Fleming Privatdetektive an, während die selbsterfundene Meg ein perfekt tarnendes Leben als mittellose schwarze Mutter lebt. Fein dosierte Krimi-Elemente kombiniert Nell Zink mit einer genauen Beobachtung der sozialen Integration von Meg und Karen in das Südstaaten-Leben der 1970er Jahre. Die Satire, zu der sich die Story entwickelt, trifft hart und genau. Nicht nur Geschlechterrollen, auch andere Identitäten lösen sich auf, vor allem die der Rasse. Während andere Autoren beim Thema Rassismus einen radikal-historischen Ansatz gewählt haben, wie Colson Whitehead in Underground Railroad, hat sich Nell Zink für die Farce entschieden. Das Konzept der Rasse wird der Lächerlichkeit preisgegeben.
Iren oder Usbeken
Keiner kommt ungeschoren davon. Nicht die Weißen in Karens Schule, die dieses schwarze Mädchen und deren Mutter besonders schätzen, weil sie nicht schwarz aussehen. Nicht Farbige wie Lomax, der Meg in sein Drogen-Business einspannt und damit ihr Überleben sichert.

"Er hatte sich seit zehn Tagen kaum bewegt, höchstens, um auf ihre Schlafcouch zu wechseln. Trägheit war ein akzeptiertes Merkmal der Südstaatenkultur, sogar bei invaliden Indianern, und vielleicht umso mehr, wenn deren nichtindianische (,irische’) Vorfahren, so wie die von Lomax, hauptsächlich Tadschiken und Usbeken waren."
War Barbie eine Schwedin?
Die parallel laufende Beschreibung von Lees Leben, der sich mit der Abwesenheit von Tochter und Gattin abgefunden hat, ist eher fade. Vielleicht, weil Nell Zink sich die Schilderung des amerikanischen College-Betriebs für das grandiose Finale aufbewahrt hat. Die blond-schwarze Karen, die in Wirklichkeit zwei Jahre jünger ist als auf dem ergaunerten Papier, geht aufs College, zusammen mit ihrem real schwarzen Freund Temple. Die Farbspiele setzen sich am College fort. Nach einem Zwischenfall bei einer Halloween-Party wird der gutmütige Temple von einem Polizisten zu Karen befragt und beschreibt seine Freundin:
"Schwarz, klein, gut gebaut, langes blondes Haar, blaue Augen, Elfenbeinhaut."
Der Cop war verwirrt. "Hast du eben nicht schwarz gesagt? (...)
"Ja. Sie ist meine Freundin."
"Und sie ist hellhäutig."
"Ja."
"Aber schwarz."
"Sie hat ein Minoritäten-Stipendium."
"Aber ihre Hautfarbe geht als schwarz durch."
"Jeder sieht, dass sie schwarz ist. Sie hat volle Lippen und eine kleine, flache Nase, ein bisschen wie Barbie."
"Barbie ist Schwedin."
Temple schwieg, weil er dachte, sie glaubten ihm vielleicht nicht.
Hoppla, der Namenspatron
Virtuos schildert Zink das College-Universum, die lächerlichen akademischen Moden, das wichtigtuerische name dropping, den weit verbreiteten Drogenkonsum. Inmitten dieser Welt unreifer Jungerwachsener kreuzen sich die Wege der beiden getrennt aufgewachsenen Geschwister Mireille alias Karen (inzwischen schwarz) und der oberkluge Großkotz Byrdie, ganz der Vater und immer noch weiß. Das Happy End, zu dem eine bizarre Gerichtsverhandlung führt, wird von Nell Zink gekonnt und genussvoll in die Länge gezogen.
Der Situations- und Wortwitz der Autorin nimmt den vergnügten Leser so ein, dass der versucht ist, sogar die "George Manson Universität" für einen ihrer schrägen Einfälle zu halten – bis sich das beim Blick ins Original dann als Schlamperei des Rowohlt-Lektorats herausstellt. Dem spielte offenbar die vage Erinnerung an Charles Manson einen Streich. Nur war der berüchtigte Musiker und Mörder wirklich nicht der Namenspatron der George-Mason-Universität, die nach dem demokratischen Vater der Bill of Rights benannt ist.
Gender- und Sternchen-Debatten
Nell Zinks satirischer Blick wirkt wohltuend frisch angesichts aktueller Identitätsdebatten und Sternchen-Haarspaltereien, die zu oft überernst, ideologisch und theoriegeleitet geführt werden – und wenig zu tun haben mit dem Leben, wie Menschen es eben leben: individualistisch, widersprüchlich und für den außenstehenden Betrachter wenig plausibel.
Am Ende ist die Familie nicht vereint, aber doch miteinander versöhnt. Und so stellen sich wieder normale Elternfragen wie die von Lee: Ist eine feste Liaison für eine 16jährige wirklich das Richtige? Aber seine wiedergefundene Tochter Karen beharrt darauf: Sie liebt Temple und will nicht zurück in die Obhut Ihres Vaters. Die Erzählerin fasst in den letzten Zeilen das Tochter-Vater-Gespräch zusammen:
"Und doch bestand sie darauf, weiter mit Temple zusammenzuwohnen, und erklärte Lee, dass sie bei ihm immer sicher sein konnte, einen Rest Pizza im Kühlschrank zu finden. Sie würde niemals kochen müssen. Lee gab zu, dass dies ein starkes Argument war."
Die Komödie ist zu Ende. Vater Lee hat seinen Frieden. Mutter Meg wird nach New York ziehen, Theaterstücke schreiben und mit ihrer neuen Partnerin Luke zusammenleben. Wie schade, dass dieses ungewöhnliche Märchen nicht weiter geht. Wir hätten mit diesem Personal noch viel Spaß haben können.
Nell Zink: "Virginia"
Rowohlt Verlag, Hamburg
320 Seiten, 22,00 Euro.