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Nelly Sachs vor 125 Jahren geboren
Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung

Die gebürtige Berlinerin Nelly Sachs konnte erst im letzten Moment vor den Nationalsozialisten nach Schweden fliehen. Sie war die erste Schriftstellerin, die den Genozid an den Juden in ihren Gedichten thematisierte. Da sie nie von Rache und Vergeltung sprach, wurde die Literaturnobelpreisträgerin zur Symbolfigur der Versöhnung.

Von Eva Pfister | 10.12.2016
    Die Schriftstellerin Nelly Sachs, aufgenommen am 24.10.1966 in ihrer Wohnung im schwedischen Stockholm, nachdem die Vergabe des Literaturnobelpreises an sie bekanntgegeben worden war.
    Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs, aufgenommen im Jahr 1966 (imago / United Archives International)
    Am 16. Mai 1940 flog Nelly Sachs mit ihrer Mutter von Berlin nach Stockholm. Viele Freunde - und sogar Selma Lagerlöf - hatten sich dafür eingesetzt, dass sie in Schweden Asyl erhielt. Es war eine Flucht in letzter Minute, wie sie sich 25 Jahre später erinnerte:
    "Zum Arbeitsdienst hatte ich schon den Schein in der Hand, der Krieg war schon, nahe Menschen sind schon von mir umgekommen, gemartert worden, und dann sind wir noch hier im letzten Augenblick hergekommen."
    Geboren wurde Leonie Sachs, genannt Nelly, am 10. Dezember 1891 als einzige Tochter jüdischer Eltern in Berlin. Trotz behüteter Kindheit fühlte sich das übersensible Mädchen einsam, glücklich war es, wenn es abends zum Klavierspiel des Vaters tanzen konnte. Als Nelly sich mit 17 Jahren unglücklich verliebte, hörte sie auf zu essen und musste psychiatrisch behandelt werden. Ein Arzt ermunterte sie zum Schreiben, das war ihre Rettung. Nach 1933 begann ihr "Leben unter Bedrohung". So heißt das Prosagedicht, das von den Schikanen im nationalsozialistischen Alltag erzählt – bis hin zu einem Verhör bei der Gestapo. Es liest Jutta Lampe.
    "Fünf Tage lebte ich ohne Sprache unter einem Hexenprozess. Meine Stimme war zu den Fischen geflohen. Geflohen ohne sich um die übrigen Glieder zu kümmern, die im Salz des Schreckens standen."
    Den Schrecken in Lyrik verarbeitet
    Im Exil übersetzte Nelly Sachs zunächst Gedichte schwedischer Lyriker – unter sehr beengten Verhältnissen. Sie lebte mit ihrer Mutter in einer Einzimmerwohnung und schlief in der Küche, wo auch ihre Schreibmaschine stand. Als im Winter 1943 die Nachrichten von den Gräueltaten der Nazis am jüdischen Volk durchsickerten, begann sie, den Schrecken in ihrer Lyrik zu verarbeiten, als erste Dichterin überhaupt.
    "O die Schornsteine
    Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
    Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
    Durch die Luft –"
    Der Gedichtband "Wohnungen des Todes" erschien 1947, fand aber ebenso wenig Beachtung wie "Sternverdunklung" zwei Jahre später. Erst Ende der Fünfzigerjahre wurde Nelly Sachs bekannt, auch durch die Vermittlung junger Autoren wie Peter Hamm und Hans Magnus Enzensberger. 1960 fuhr die schwedische Staatsbürgerin erstmalig wieder nach Deutschland – um den Meersburger Drostepreis entgegenzunehmen. Das weckte aber auch die schrecklichen Erinnerungen, drei Jahre lang litt Nelly Sachs an schweren Angstattacken. 1965 aber reiste sie nach Frankfurt am Main:
    "Wenn ich heute nach langer Krankheit meine Scheu überwunden habe, um nach Deutschland zu kommen, so nicht nur, um dem deutschen Buchhandel zu danken, der mir die Ehre erwiesen hat, mir den Friedenspreis zu verleihen, sondern auch den neuen deutschen Generationen zu sagen, dass ich an sie glaube."
    Literaturnobelpreis am 75. Geburtstag
    Da Nelly Sachs nie von Rache oder Vergeltung sprach, wurde sie zur Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung. An ihrem 75. Geburtstag konnte sie in Stockholm gemeinsam mit dem hebräischen Dichter Samuel Josef Agnon den Literaturnobelpreis entgegennehmen.
    Nelly Sachs starb am 12. Mai 1970. Zu ihrem Werk gehören neben Gedichtsammlungen wie "Fahrt ins Staublose" und "Glühende Rätsel" auch dramatische Versuche, inspiriert von der Bibel und von chassidischer Mystik. Darin hatte die Dichterin einen Halt gefunden in den schweren Zeiten des Exils und der psychischen Krisen.
    "Wenn es auch eitel ist / und Haschen nach dem Wind / Und kein Gewinn unter der Sonne / und wenn auch die Toten schmucklos liegen / und wenn auch dieser Stern eine Handvoll Staub ist / in Gottes Hand / so wollen wir doch guten Mutes sein. Eine kleine Weile. / Denn wozu steigt sonst der Schmetterling aus der Raupe / und der Morgen aus der Nacht?"