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Trotz Hilfe vom Staat ein Leben in Würde zu führen, ist Ziel der Sozialgesetzgebung in Deutschland. Vor 45 Jahren beschloss der Bundestag das Bundessozialhilfegesetz. Damit wurde das alte Fürsorgerecht von 1924 abgelöst. Doch Armut wird bis heute als Makel angesehen.

Von Klaus P. Weinert | 04.05.2006
    "Das hohe Haus hat im Januar 1957 bei der Beratung der Rentenversicherungsneuregelungsgesetze die Bundesregierung durch einstimmigen Beschluss ersucht, mit tunlichster Beschleunigung ein Gesetz über die Neuordnung des Fürsorgerechts vorzulegen. Dieser Beschluss kam den Absichten der Bundesregierung entgegen, im Rahmen der umfassenden Reformen der Sozialleistung auch das Fürsorgerecht neu zu regeln. Ich habe heute die Ehre – ihnen meine Damen und Herren – diesen Entwurf eines Bundessozialhilfegesetzes zu unterbreiten."

    Gerhard Schröder, 1961 Innenminister im dritten Kabinett Adenauer, begründete in seiner Bundestagsrede das Bundessozialhilfegesetz, das in seinem Ressort federführend ausgearbeitet wurde. Es war ein weiterer Meilenstein in der Sozialgesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg.

    Ziel des Gesetzes war es, das alte Fürsorgerecht von 1924 abzulösen. Es schuf eine Rechtsgrundlage für das unterste soziale Sicherungsnetz in der Bundesrepublik. Alle Menschen hatten nun einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe, auch ausländische Mitbürger.

    Die Empfänger der Sozialhilfe sollten rasch in den Arbeitsmarkt integriert werden. Der Einzelne musste nach Kräften mitwirken - wie es damals hieß -, um wieder ohne staatliche Hilfe unabhängig sein Leben führen zu können. Damit wurde der Wiedereingliederungsaspekt in den Arbeitsmarkt hervorgehoben, dem vorsorgestaatlichen Gedanken eine Absage erteilt.

    Gerhard Bäcker, Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Duisburg:

    "Das Bundessozialhilfegesetz ging ja damals von der berechtigten Erwartung aus, dass die sozialen Notlagen und Probleme durch die vorrangigen Sozialversicherungssysteme aufgefangen würden und dass nur ein kleiner werdender Rest in den Geltungsbereich des Sozialhilfegesetzes fallen würde. Diese Erwartung ist spätestens ab Ende der 70er Jahre dann durch die Entwicklung überrollt worden, insbesondere durch das hohe und ansteigende Ausmaß an Arbeitslosigkeit, aber auch durch veränderte Lebens- und Familienformen - Stichwort: hohes Maß an Alleinerziehenden -, so dass die Empfängerzahlen sowohl der Hilfe zum Lebensunterhalt als von Hilfen in besonderen Lebenslagen ganz deutlich angestiegen sind."

    Die Zahl der Sozialhilfeempfänger stieg rasch an. Schon als der Bundestag das Gesetz 1961 verabschiedete, zeichnete sich dies ab. Im Vergleich zur alten Fürsorge kam schon 1962 eine knappe halbe Million Menschen hinzu.

    In der Folgezeit geriet das Sozialsystem immer häufiger unter Druck. Schließlich gab es mit den "Hartz"-Gesetzen die bisher härtesten Einschnitte. Fördern, aber besonders auch fordern hieß jetzt die Devise insbesondere von "Hartz IV". Das Gesetz fasst erwerbsfähige Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfänger zusammen.

    Bäcker: "Die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war aus meiner Sicht unausweichlich, als die Parallelität von zwei Leistungssystem für denselben Personenkreis in einem Gegeneinander in Kommunen und Arbeitsämtern nicht länger hätte verwirklicht werden können. Eine andere Frage ist, ob die Zusammenführung in der konkreten Art und Weise richtig und ausgewogen war. Nach meinem Eindruck sind die Leistungshöhe und die Leistungsbedingungen zu restriktiv, das heißt, zu viele Arbeitslose fallen nach einer kurzen Dauer der Arbeitslosigkeit schon in ein tiefes Loch."

    Die Regelsätze für die Sozialhilfe waren und sind auch heute knapp kalkuliert. Mit 345 Euro im Westen und noch 331 Euro im Osten pro Monat muss heute ein "Hartz IV"-Empfänger auskommen. In einem Hochpreisland wie der Bundesrepublik ist dies keine leichte Aufgabe.

    Die Schere zwischen durchschnittlichem Bruttoverdienst und Sozialhilfe hat sich in den vergangenen 30 Jahren immer weiter geöffnet. In den 60er Jahren bekam ein Sozialhilfeempfänger ungefähr ein Fünftel des durchschnittlichen Bruttoverdienstes, heute etwa nur noch ein Zehntel. Daher ist der Anspruch des Bundessozialhilfegesetzes von 1961 heute noch weniger verwirklicht, nämlich trotz Sozialhilfe ein Leben in Würde führen zu können, wie es damals Innenminister Gerhard Schröder formulierte:

    "Nach dem Grundgesetz ist die Bundesrepublik ein sozialer Rechtsstaat. Als solcher kann sie an der Not ihrer Bürger nicht vorbeigehen. Schon im 19. Jahrhundert hat der große Staatsdenker Lorenz von Stein das Wesen staatlicher Verpflichtung zur Hilfe für die Notleidenden erkannt, wenn er sagt: Not ist nicht bloß eine Gefahr, sondern sie ist eine Unfreiheit für den, der sie leidet. Eben deshalb ist ihre Beseitigung nicht mehr nur Sache des Einzelnen, sondern der Gemeinschaft."