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Über die Dicke von Blut und Wasser

"Der andere Sohn" könnte zu den Akten gelegt werden, wenn es nur um zwei vertauschte Kinder gehen würde. Doch bei den Männern handelt es sich um einen Israeli und einen Palästinenser, was sie Sache konfliktreich und zu einem Denk-nach-Movie, auch über verkrustete patriarchale Strukturen macht, meint unser Kritiker Hartwig Tegeler. Weiter Filme diese Woche: "Ich und Kaminski" mit Daniel Brühl und das Bergdrama "Everest".

Von Hartwig Tegeler | 16.09.2015
    Die Regisseur Lorraine Levy (r) und der Schauspieler Jules Sitruk .
    Beim Film "Der Sohn der Anderen" führte Lorraine Levy (r) Regie und Jules Sitruk spielt den Palästinenser Joseph (AFP/KAzuhiro Nogi)
    Ein Bluttest, als der junge Israeli seinen Militärdienst antreten will, und eine Welt stürzt zusammen: Joseph wurde kurz nach seiner Geburt mit Yacine verwechselt, der in der palästinensischen Familie im Westjordanland, hinter der großen Mauer, hinter dem israelischen Kernland, groß geworden ist. 18 Jahre lang. "Der Sohn der Anderen" von Lorraine Lévy, klingt zunächst arg konstruiert, so, als wollte die Regisseurin auf dem Hintergrund des jahrzehntelang währenden blutigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern die Frage untersuchen, ob denn Blut nun wirklich dicker als Wasser ist.
    Denn natürlich stellt sich nach der Entdeckung, wessen Sohn Joseph und wessen Yacine eigentlich ist, die Identität der israelischen wie der palästinensischen Familie infrage. Bis an die Grenze zur Absurdität, wenn als Israeli groß gewordene Joseph in einem Anfall von Verzweiflung fragt, ob er denn nun lernen müsse, mit einem Sprengstoffgürtel umzugehen. Und die Väter beider Familien tragen mit ihrer Sturheit und ihren Vorurteilen kräftig zur Anti-Völkerverständigung bei.
    Aber erstaunlicherweise wirkt "Der Sohn der Anderen" kein bisschen hölzern, sondern erzählt mit einer hervorragenden Besetzung aus französischen, israelischen und palästinensischen Schauspielern davon, wie die Menschen, die Jungen zweifellos leichter als die Alten, anfangen, jenseits der Mauern, die durch ihr Leben laufen, miteinander zu reden und zu lachen.
    Kein Feelgood-, aber ein Denk-nach-Movie, auch über verkrustete patriarchale Strukturen.
    "Der Sohn der Anderen" von Lorraine Lévy - empfehlenswert.
    2002: "Good Bye, Lenin". 2015: "Ich und Kaminski". Und hier wieder mit Daniel Brühl in der Hauptrolle. Das Problem an Wolfgang Becker neuem Film ist nicht, dass wir Daniel Brühl den ekelhaft selbstverliebten, [...]
    "Ja, ja, du mich auch."
    Besserwisserischen Möchtegern eines Kulturjournalisten nicht abnehmen würden. Sebastian Zöllner, der sich durch die Szene und sein Leben schnorrt, hat angeblich nun die Story: Er behauptet, das letzte Geheimnis über diesen Künstler Kaminski, den blinden Maler, enthüllen zu können:
    "Niemand weiß es. Und wer es weiß, schweigt darüber."
    "Und was ist das?"
    "Kaminski war gar nicht blind. Zumindest nicht damals, als er damit berühmt wurde. Alles Lüge."
    Alles Lüge - das könnte als Motto über diese Medien- und Kulturwelt stehen, die Wolfgang Becker in der Verfilmung eines Daniel-Kehlmann-Romans im ersten Teil von "Ich und Kaminski" zeichnet.
    Allein der Prolog mit einer - gefakten - Dokumentation über die Bedeutung von Manuel Kaminski als Weggefährte von Picasso, Warhol und Konsorten ist ziemlich komisch und wunderbar gemacht. Einen Haken allerdings hat Zöllners vorgeblicher Scoup über diesen Jahrhundertkünstler Kaminski:
    "Dann bräuchten wir nur noch eins."
    "Und was?"
    "Er muss natürlich noch sterben."
    Also macht sich das Ekelpaket eines journalistischen Vampirs auf ins Schweizerische Chalet, wohin sich Kaminski verkrochen hat. Schlitzohr trifft so auf Schlitzohr. Doch dann fängt "Ich und Kaminski" mächtig an zu haken, was den Erzählfluss betrifft. Und auch die Figuren kippen weg, werden uns egal.
    Daniel Brühl und der vom dänischen Schauspieler Jesper Christensen gespielte Kaminski machen sich auf die Suche nach einer alten Liebe des vorgeblich blinden Künstlers. Und flugs wird der eitle, egomanische Journalist zu einem guten, emphatischen Menschen.
    Diese Verwandlung ist - Kehlmann-Vorlage hin oder her - an den Haaren herbeigezogen. Wolfgang Beckers Film ist so leider in zwei Teile zerbrochen. Der eine komisch und ein wenig bissig. Den anderen kann man einfach nicht glauben.
    "Ich und Kaminski" von Wolfgang Becker - enttäuschend.
    "Mindestens dreizehn Leute stecken da oben jetzt noch fest. Und der Sturm wird immer schlimmer."
    Die tragisch verlaufende kommerziell geführte Mount-Everest-Expedition von 1996, die Jon Krakauer in seinem Bestseller "In eisigen Höhen" beschrieb, ist nun auch Thema des 3D-Films "Everest", den der spanisch-isländische Regisseur Baltasar Kormákur mit den Stars Jake Gyllenhaal, Josh Brolin, Sam Worthington, Jason Clarke, Robin Wright, Keira Knightley und Emily Watson verfilmt hat. Im Kern erzählt dieses Drama von der Gier der Menschen, die meinen, die Übermacht der Natur überwinden zu können. Und "Everest" erzählt davon, wie die Kommerzialisierung dieser 8000er-Bergsteigerei zu solchen Unglücken quasi notwendig führen muss. Massentourismus am Everest, was heute faktisch dort stattfindet, schreit nach Unfällen. Davon erzählt dieser Film auch.
    "Wir haben drei oben, aber die sind schon auf dem Rückweg."
    "Was machen die da so spät. Die hatten eine Umkehrzeit von 14 Uhr. Die ist längst vorbei. Und ich sehe im Tal Wolken aufziehen. Und zwar eine ganze Menge."
    "Das gebe ich sofort durch."
    Am Ende dieser Bergtour sind viele Bergsteiger tot. Ohne Schwülstigkeit, nur mit der Macht seiner eindrucksvollen 3D- bzw. IMAX-Bilder erzählt Baltasar Kormakur von der majestätischen Übermacht der Natur, an der die Gefühle der Menschen - Ehrgeiz, Ruhmsucht, Leidenschaft, Besessenheit - abprallen. Der Everest ist der Everest ist der Everest.
    "Everest in 3D" von Baltasar Kormákur - empfehlenswert.