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Neu im Kino
Zwischen Welten und Türmen

Auf einem Drahtseil zwischen den Zwillingstürmen: Der neue Film "The Walk" von Robert Zemeckis erinnert er an den französischen Artisten Philippe Petit, der 1974 auf einem Drahtseil zwischen den Twin Towers balancierte. In "Unser letzter Sommer" kreuzen sich die Welten eines jungen Deutschen und Polen immer wieder - im Kriegsjahr 1943.

Von Jörg Albrecht | 21.10.2015
    Schauspieler Joseph Gordon-Levitt (Links) um Regisseur Robert Zemeckis bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Films "The Walk"
    Schauspieler Joseph Gordon-Levitt (Links) um Regisseur Robert Zemeckis bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Films "The Walk" (dpa / picture alliance / Evgenya Novozhenina)
    "The Walk" von Robert Zemeckis
    "Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum." Kaum ein Kalenderspruch ist abgedroschener als das 400 Jahre alte Lebensmotto des italienischen Utopisten Tommaso Campanella. Der Franzose Philippe Petit hat an seinen großen Traum immer geglaubt. Von der Spitze der New Yorker Freiheitsstatue nimmt uns ein rothaariger Joseph Gordon-Levitt, der Philippe Petit spielt, mit in die Vergangenheit. In Robert Zemeckis´ "The Walk" wird Petit zum Erzähler seiner Lebensgeschichte und seines tollkühnen Plans.
    "Stellen wir uns vor, es sei das Jahr 1974 in New York City und ich bin verliebt in zwei Gebäude, zwei Türme oder – wie man sie überall auf der Welt nennt – die Twin Towers des World Trade Center. Sie rufen mich – diese Türme. Sie wühlen etwas in mir auf und sie inspirieren mich zu träumen."
    Petits Traum ist es, zwischen den beiden Türmen in über 400 Metern Höhe ein Drahtseil zu spannen und darauf zu balancieren. In schneller Folge zeigt Regisseur Zemeckis, wie sich Petit als Teenager als Autodidakt seine Jonglier-Kunststücke beibringt, das Laufen auf dem Drahtseil erlernt und sein Geld als Straßenkünstler in Paris verdient. Wirklich nahe kommen wir diesem Philippe Petit dabei aber nicht, denn der Film macht aus ihm fast eine Cartoon-Figur.
    Als Charakterstudie, die uns einen verrückten Artisten und Performance-Künstler näherbringen soll, kann "The Walk" zwar nicht überzeugen, als Kino-Event aber – vor allem in 3D – sorgt der Film in seiner zweiten Hälfte für schweißnasse Hände. Das beginnt bereits, wenn Zemeckis die Vorbereitungen für Petits Drahtseilakt wie eine Gaunerkomödie im Stil von "Ocean's Eleven" in Szene setzt.
    "Nach dem, was ich ausspioniert habe, kommen wir damit ins 82. Stockwerk. Und wenn die Luft rein ist, dann bringen wir – so schnell wir können – alles aufs Dach und spannen die Seile. Um Mitternacht sind wir fertig."
    Wenn Petit den ersten Schritt auf das Seil macht und seinen Traum zu leben beginnt, präsentiert uns der Filmmagier Robert Zemeckis Kino in seiner reinsten Form: technisch brillant und State of the Art und dabei doch ganz nah an dem alten Jahrmarktsvergnügen, das es war, als die Bilder vor über 100 Jahren laufen lernten.
    Die Idee sei es, so Robert Zemeckis, die Technik unsichtbar zu machen, so dass sie der emotionalen Geschichte dient. Wenn das gelinge, dann sei es Kino. Die digitale Wiederauferstehung der Twin Towers dürfte diese Emotionalität nur noch verstärken.
    "The Walk": empfehlenswert
    "Unser letzter Sommer" von Michal Rogalski
    "Verschwinde! Verschwinde! ... Den Koffer!"
    Der 17-jährige Guido und der gleichaltrige Romek stehen sich zum ersten Mal gegenüber. Guido ist ein deutscher Soldat, Romek ein polnischer Heizer bei der Eisenbahn, der entlang der Bahnstrecke Warschau-Treblinka immer wieder Gepäck- und Kleidungsstücke findet. In Michal Rogalskis Film "Unser letzter Sommer" gibt es zwar keine ausdrücklichen Bilder der Deportation von Juden, doch die Fundstücke sprechen eine deutliche Sprache.
    "Unser letzter Sommer" spielt im Jahr 1943 und erzählt parallel die Geschichte von Guido und Romek, deren Wege sich immer wieder kreuzen. Die Beiden werden sich in dasselbe Mädchen verlieben, werden gemeinsam verbotene Swing-Schallplatten hören und sich als Feinde gegenüberstehen. Denn während Guidos Befehl lautet, Partisanen und Juden aufzuspüren, hilft Romek einem verletzten jüdischen Mädchen bei seiner Flucht.
    "Gehört die zu dir? ... Wer ist die?"
    "Gib mir die Waffe!"
    "Nicht schießen! Du weißt nicht, was du tust"
    "Ruhe!"
    In trügerisch ruhigen Bildern erzählt "Unser letzter Sommer" von den Schrecken des Krieges und wie diese das Leben zweier Heranwachsender bestimmen. Guido und Romek wird endgültig bewusst, dass ihre Kindheit vorbei ist und sie die Verantwortung für ihr Handeln tragen. Michal Rogalski ist mit seinem Film eine differenzierte, sublime und weitgehend klischeefreie Coming-of-Age-Geschichte in Kriegszeiten gelungen.
    "Unser letzter Sommer": empfehlenswert
    "Scultura - Hand. Werk. Kunst." von Francesco Clerici
    So ausführlich hat man den Entstehungsprozess eines Kunstwerks noch nicht im Kino gesehen. In "Scultura – Hand. Werk. Kunst." fasst der Filmemacher Francesco Clerici in knapp 80 Minuten die Arbeitsgänge zusammen, die notwendig sind, damit am Ende eine Bronzefigur des italienischen Künstlers Velasco Vitalis herauskommt. In diesem Fall ist es ein liegender Hund. Schauplatz der unkommentierten Dokumentation ist die Fonderia Artistica Battaglia in Mailand, eine der ältesten Bronzegießereien auf der Welt. Es wird modelliert, geschmolzen, gegossen und gefeilt. Damit ein Kunstwerk entstehen kann, ist perfektes Handwerk vonnöten. Handwerk mit einer jahrtausendealten Tradition. Bei Francesco Clerici wird dieser chronologisch präsentierte Schaffensprozess, bei dem auf Erläuterungen vollständig verzichtet wird, zur puren sinnlichen Erfahrung.
    "Scultura - Hand. Werk. Kunst.": empfehlenswert