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Neudeck: Aus der Küstenregion Libyens kommt nichts mehr heraus

Die Flüchtlingssituation hat sich auf der Mittelmeerinsel Lampedusa nach dem Abkommen zwischen Italien mit Libyen total verändert, sagt Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation "Grünhelme". Afrikanische Flüchtlinge kämen nicht mehr an. Es sei zu erwarten, dass sich der Flüchtlingsstrom weiter in den Westen Afrikas verlagern werde.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Sandra Schulz | 02.12.2009
    Sandra Schulz: Mehr als 2000 Menschen waren es an manchen Tagen, die im Auffanglager auf der italienischen Insel Lampedusa untergebracht waren. Beherbergt wäre wohl nicht die richtige Vokabel, denn das Lager war deutlich überbelegt. Für Schlagzeilen sorgten immer wieder die Proteste der italienischen Inselbewohner, die sich allerdings nicht für, sondern gegen die Flüchtlinge starkgemacht hatten. Bis vor Kurzem kam jeder illegale Einwanderer, der in Italien landete, für ein paar Tage oder Wochen hierher. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt mehr als 30.000, viele von ihnen Bootsflüchtlinge, die ihr Leben bei der Flucht über das Mittelmeer riskiert hatten. Inzwischen ist die Lage eine ganz andere, Rupert Neudeck. Den Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme" erreichen wir heute Morgen auf Lampedusa. Herr Neudeck, wie erleben Sie die Situation jetzt im Dezember 2009?

    Rupert Neudeck: Total anders, Frau Schulz, denn die Situation ist so, dass das Abkommen, das Berlusconi mit Gaddafi, also Italien mit Libyen, dem Anrainerstaat des Mittelmeeres auf der anderen Seite von Lampedusa, getroffen hat, dazu geführt hat, dass es hier wirklich keinen mehr gibt, der seit Tagen ankommt. Nun muss man dazu sagen, dass jetzt auch die Saison nicht mehr so günstig ist für Menschen, die auf Booten sich vom Mittelmeer auf den Weg nach Lampedusa machen. Lampedusa liegt nun sehr nahe an der nordafrikanischen Mittelmeerküste, könnte also immer wieder erreicht werden, wird aber jetzt nicht erreicht – ganz eindeutig deshalb, weil es dieses Abkommen zwischen den beiden Staaten gibt, die auch sehr viel sich haben kosten lassen. Das heißt, Italien hat sich dieses Abkommen sehr viel kosten lassen und hat den Handel mit Libyen erheblich erhöht, was für Italien immer sehr wichtig war, und deshalb ist hier eigentlich das Lager fast ausgedünnt und wir erleben jetzt nicht mehr diese täglichen anströmenden Flüchtlinge, die mit zig Menschen an Bord aus Afrika ankommen. Die Situation hat sich auf Lampedusa total geändert, was nicht heißt, dass die Migration zu Ende ist, weil wir haben andere Plätze, die für junge afrikanische Migranten in der Lage sind, sie weiterzuführen auf andere Plätze auf Europa, denn hier in Lampedusa ist der Beginn von Europa für diese jungen afrikanischen Flüchtlinge.

    Schulz: Was ist denn darüber bekannt - Sie haben gerade dieses Abkommen angesprochen -, was mit den Flüchtlingen geschieht?

    Neudeck: Ganz sicher ist es so, dass mit ihnen nichts Weiterführendes geschieht. Das ist eben der Mangel dieser Politik, die die Europäische Union und Italien im Besonderen tut. Sie kümmern sich nicht um diese Flüchtlinge. Libyen, das ja nun auch ein milde gesagt autoritäres Land ist, ist nur in der Lage, diese Küste so total zu bewachen, kann diese Küste offenbar mit seiner Marine total bewachen, sodass eben aus der Küstenregion Libyens nichts mehr herauskommt und diese Flüchtlinge dann abgeschoben werden, oder in Libyen kaserniert werden. Das ist wahrscheinlich die Situation, aber das weiß hier auf Lampedusa keiner so ganz genau.

    Schulz: Der Transit über das Mittelmeer ist ohnehin eine Lebensgefahr. Ist der jetzt noch gefährlicher geworden?

    Neudeck: Das ist jetzt eine Saisonfrage. Jetzt ist natürlich die Wintersaison angebrochen, hier ist es sehr stürmisch auf Lampedusa, man kann sich kaum auf der Insel bewegen, so stark ist der Sturm und der Wind. Das hat immer dazu geführt, dass sowieso saisonbedingt, sage ich mal, die Zahl der Menschen, die aus Afrika gekommen sind, runtergegangen ist. Aber dass keiner mehr gekommen ist, ist etwas anderes, ist eine sehr gefährliche Situation. Ich vermute nach meinen Kenntnissen, die ich auch von der Westküste Afrikas habe, dass jetzt schon innerhalb der Migration, die ja in Hunderttausende in Afrika geht, der Strom ein bisschen mehr nach Westafrika, also nach Mauretanien, Senegal, Marokko, wieder geht, denn dort ist die Hoffnung größer, dass man dann auf die auch europäischen kanarischen Inseln kommt, und damit wird dieser Strom wahrscheinlich ein bisschen umgelenkt werden. Die Migration wird man durch dieses eine Abkommen zwischen Libyen und Italien nicht beenden können. Es wird eine Umleitung dieses Stromes geben.

    Schulz: Und jetzt feiert Italiens Innenminister Maroni es ja quasi als Erfolg, dass das Lager auf Lampedusa inzwischen annähernd leer ist. Wie sehen das denn die Inselbewohner, die ja auch protestiert hatten?

    Neudeck: Die Bewohner haben uns gesagt und sagen uns hier, dass sie eigentlich diese Flüchtlinge eher bedauert haben, dass sie eher Sympathie hatten, dass sie eher nichts dagegen hatten. Das war doch wohl etwas, was eher aus der Politik hier gekommen ist. Hier gibt es natürlich auch politische Vertreter der Parteien, die in Rom das Sagen haben. Ein Liga-Nord-Vertreter ist hier auch sehr aktiv. Das war wahrscheinlich eher der Ausdruck der veröffentlichten Meinung, sage ich mal so mit mitteleuropäischen Begriffen, als der Ausdruck der Meinung der Menschen, die hier auf Lampedusa als Fischer und als Arbeiter tätig sind. Ich glaube nicht, dass die Bevölkerung sehr viel dagegen hat. Die hat gesehen, dass das arme Teufel sind, die hier ankommen, die eigentlich ein Menschenrecht in Anspruch nehmen, nämlich eine bessere Welt für sich selbst und eine Perspektive zu erlangen. Die Bevölkerung ist nicht eher in diesem Sinne froh oder traurig darüber, sondern sie hat diese Menschen eigentlich im mitmenschlichen Sinne sympathisierend empfangen.

    Schulz: Was können Sie jetzt aktuell auf Lampedusa für die Flüchtlinge tun?

    Neudeck: Ich denke, im Moment ist das hier für mich eine Situation, in der wir nicht aktiv werden müssen, denn das ist für uns dann eher eine Situation zu überlegen, ob wir nicht in den Ländern Westafrikas tätig werden, denn es geht ja darum, dass man für diese Menschen etwas tut, nicht nur sie auf dem Meer versucht zu erreichen, sondern dass man versucht, ihnen an Land das zu geben, was ihnen möglicherweise eine Rückkehrmöglichkeit gibt, nämlich eine Berufsausbildung. Und das im Zusammenhang mit einem Mikrokredit könnte für einen jungen Afrikaner bedeuten, dass er dann auch wieder ohne Gesichtsverlust in sein Heimatland und in sein Heimatdorf zurückkehren kann, wenn er eine Berufsausbildung hat und wenn er einen Mikrokredit hat, um ein Unternehmen zu eröffnen. Das wäre eigentlich so der Königsweg, der bedeuten könnte, dass junge Afrikaner nicht unbedingt diesen furchtbar gefährlichen und dann auch aussichtslosen Weg nach Europa gehen müssen.

    Schulz: Mit welchem Gefühl werden Sie Lampedusa verlassen?

    Neudeck: Ich verlasse es mit diesem Gefühl, dass Europa noch nicht in der Lage ist, überhaupt zu begreifen, was in den nächsten Jahren auf den Kontinent zukommt, denn diese Migration wird nicht allein durch solche Abkommen, durch solche Handelsabkommen, durch solche Erhöhung von Mauern und Zäunen erreicht, sondern dadurch, dass wir eine große Politik machen, die die afrikanischen Länder und Gesellschaften in die Lage versetzt, am globalisierten Markt teilzunehmen. Das hat Europa, Brüssel und die Hauptstädte Europas, noch längst nicht erreicht.

    Schulz: Eindrücke und Einschätzungen von Lampedusa, heute Morgen vom Gründer der "Grünhelme". Vielen Dank, Rupert Neudeck.

    Neudeck: Danke auch!