Freitag, 19. April 2024

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Neue Biografie über Simone de Beauvoir
Appell an die Verantwortung

Lange galt sie nur als literarisch begabte Frau an der Seite des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre. Jüngste Biografien rechnen mit dieser Lesart ab. Alois Prinz kommt in seinem aktuellen Buch gar zu dem Schluss: Auf die Jugend übte Simone de Beauvoir nie so viel Einfluss aus wie heute.

Von Alexandra Wach | 29.10.2021
Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir besteigen ein Flugzeug und das Buchcover von Alois Prinz: "Das Leben der Simone de Beauvori"
Die Autorin und Philosophin Simone de Beauvoir wird gerade wiederentdeckt. Sie war nie bloß die Frau an der Seite Jean-Paul Sartres (Buchcover: Suhrkamp Verlag / Jean-Paul Sartre u. Simone e Beauvoir: dpa)
Paris im Jahr 1944. Ernst Jünger, Soldat und Dichter, trifft sich mit Künstlern wie Jean Cocteau oder Pablo Picasso. Mit Simone de Beauvoir trifft er sich nicht.
"Wenn der Zufall es wollte, dass sich die beiden begegneten, käme es vermutlich zu einer heftigen Diskussion. Denn Simone de Beauvoir hasst die deutschen Besatzer, und sie hält nicht viel von Zufällen. Auch nicht von Schicksal und Vorsehung. Das sind für sie Konstruktionen, die man erfindet, um sich der Verantwortung für sein Leben zu entziehen."
"Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten" von Julia Korbik
Über Simone de Beauvoir - "Dank ihr können wir heute über Tabuthemen reden"
Autorin, Philosophin, Feministin: Simone de Beauvoir ist auch heute noch aktuell, findet die Journalistin Julia Korbik, die in ihrem Buch "Oh, Simone!" deren Leben und Werk erzählt und erklärt.

Frau, aber auch Mann sein

Für de Beauvoir heißt gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen vor allem Schreiben. Sie ist 36 Jahre alt und ihr erstes Buch, "Sie kam und blieb", hat sie schon 1943 veröffentlicht. Und sie ist liiert mit Jean-Paul Sartre, dem aufsteigenden Stern am französischen Intellektuellen-Himmel. Ihr Pakt ist bereits geschlossen. Heiraten kommt nicht in Frage. Jeder soll seine Freiheit behalten. Dazu gehören auch Seitensprünge. An ihren Liebhaber, den US-amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren, schreibt Beauvoir 1948:
"Ich liebe das Leben so sehr und verabscheue den Gedanken, eines Tages sterben zu müssen. Und außerdem bin ich schrecklich gierig; ich möchte vom Leben alles, ich möchte Frau, aber auch Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein."

Unbändiger Freiheitsdrang

Wie aber wurde sie zu dieser Frau mit dem unbändigen Freiheitsdrang? Es muss an der Kindheit im streng katholischen Milieu gelegen haben, mutmaßt Alois Prinz, an der Prüderie und den Verboten. Er rekonstruiert minutiös die Studienzeit der glänzenden Absolventin. Vor allem aber erzählt er von ihren Aufenthalten in den USA ab dem Jahr 1947. Beauvoir besucht Nachtclubs, schließt Freundschaften mit Jazz-Musikern und hält Vorträge in Mädchen-Colleges. Prinz stützt seine an der historischen Chronologie ausgerichtete Erzählung auf Selbstaussagen in Briefen und ihren Memoiren.
"Ich sah, dass die college-girls kaum eine andere Sorge hatten als die, einen Mann zu kriegen, und dass der Ledigenstand hier noch schiefer angesehen wird als in Europa."

Konkrete Konflikte

Gerade weil sich Beauvoir immer wieder zum Objekt ihres Schreibens gemacht hat, wundert man sich über Prinz' spekulative Formulierungen wie "Simone hat das Gefühl", oder "dem Kind Simone kommt es nicht in den Sinn". Auf diese Mutmaßungen des Autors hätte man gern verzichtet. Wenn er aber die Grundgedanken ihrer Werke rekapituliert, ist man dankbar, dass er philosophische Fragen auf konkrete Konflikte im Miteinander bezieht.
"Problematisch wird die Freiheit eines Menschen dadurch, dass sie mit der Freiheit der anderen Menschen verkettet ist. Was ist, wenn ein anderer Mensch Ziele hat, die meinen entgegenstehen, vielleicht sie sogar bedrohen? Wo hört meine Freiheit auf?"
Das hielt sie 1977 nicht davon ab, eine Petition mit der Forderung zu veröffentlichen, sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen zu entkriminalisieren. Wie konnte eine Philosophin, die über die Freiheit des Menschen derart ausgereifte Überlegungen anstellte, dem antibürgerlichen Zeitgeist folgen und Grenzüberschreitungen auf Kosten von Minderjährigen akzeptieren, fragt man sich heute. Prinz erwähnt diese heikle Entscheidung nicht. Das erstaunt, da er durchaus ihre Widersprüche auszuleuchten weiß.

Polemische Anfeindungen

Mit jeder Seite wächst der Leser in das Dasein einer streitbaren Autorin hinein, die mit Sartre die politisch engagierte Literaturzeitschrift "Les Temps Modernes" gegründet hatte und seit dem Erscheinen des Klassikers "Das andere Geschlecht" polemisch angefeindet wurde.
"Grund ist, dass einige Teile ihres Buches in ,Les Temps Modernes' abgedruckt wurden, in denen es um die Sexualität der Frau, um Orgasmen, um lesbische Liebe und Abtreibung geht. Die Kioske werden regelrecht gestürmt, aber mit dem Sturm der Entrüstung, der nun über sie hereinbricht, hat sie nicht gerechnet."
Eine junge Frau betrachtet das in einer Glasvitrine ausgestellte Titelbild der Zeitschrift“ Stern“, darauf die Gesichter von etwa 20 Frauen. Darüber der Schriftzug schwarz auf gelb_ "wir haben abgetrieben“
Als 374 Frauen bekannten: "Wir haben abgetrieben"
Am 6. Juni 1971 verkündeten 374 Frauen im Magazin "Stern": "Wir haben abgetrieben" - und forderten die Abschaffung des Paragrafen 218. Damit stießen sie eine Debatte über Schwangerschaftsabbrüche an.

Selbst die Frauenbewegung feindet sie an

Auch mit der Ablehnung, die ihr entgegenschlug, nachdem sie zusammen mit Sartre ein Manifest für die Unabhängigkeit von Algerien unterschrieb, hat sie nicht gerechnet. Selbst die Frauenbewegung feindete sie an, weil sie Frauen als Opfer dargestellt habe.
"Dabei wollte Beauvoir, wie sie sich verteidigt, nicht Frauen schildern, wie sie sein sollen, sondern, wie sie oftmals tatsächlich sind, nämlich verbittert und vereinsamt, weil sie paradoxerweise an den ihnen zugewiesenen Rollen festhalten und darum zu wirklicher Veränderung unfähig sind."
Neue Erkenntnisse sucht man in "Das Leben der Simone de Beauvoir" vergeblich. Die Stärke des Autors, der sich vor allem mit Biografien für junge Leser einen Namen gemacht hat, liegt darin, sein Sujet nicht mit wissenschaftlichen Exkursen zu überfrachten. Er bemüht sich, aus der Sicht der Porträtierten zu schreiben. Das überzeugt nicht immer.

Größerer Nachklang als Sartre und Camus

Den Austausch mit anderen Zeitgenossen aber schildert Prinz überaus anschaulich und übernimmt die These aus einer 2020 erschienen Biografie, nicht Sartre oder der Schriftsteller Albert Camus, sondern Beauvoir sei heute diejenige, die mit ihrer existenzialistischen Ethik den größten Nachklang finde.
"In Zeiten einer immer lückenloser werdenden Überwachung und der Lenkung unseres alltäglichen Lebens durch anonyme Systeme ist es der Appell Beauvoirs an unsere Freiheit und Verantwortung, der ihre Anziehungskraft bis heute ausmacht. Es scheint, dass dieser Appell gerade von einer jungen Generation wieder gehört wird, wenn sie die Politiker in aller Welt an die Verantwortung für unseren Planeten erinnert und dafür auf die Straße geht."
Alois Prinz: "Das Leben der Simone de Beauvoir"
Insel Verlag, Berlin. 303 Seiten, 24 Euro.