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Neue Debatte über Pinochet-Diktatur

Der 40. Jahrestag des Militärputsches in Chile hat eine neue Diskussion über die Pinochet-Diktatur ausgelöst. Weil in gut zwei Wochen ein neues Staatsoberhaupt gewählt wird, ist die Aufarbeitung der Zeit auch zum Wahlkampfthema geworden.

Von Victoria Eglau | 02.11.2013
    "”Nach so vielen Jahren könnte man erwarten, dass das Interesse an den Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Diktatur nachlässt. Doch das Gegenteil ist der Fall: in dem Maße, wie die Chilenen Dinge erfahren, die sie nicht wussten, oder lange Zeit nicht wissen wollten, nimmt das Interesse zu.""

    Sagt der Journalist Jorge Escalante, einst selbst Folteropfer des Regimes. "Die Verbrechen, die Chile erschütterten" heißt eine Reportagen-Sammlung, die er mit Kollegen veröffentlicht hat. Sie gehört zu den vielen Büchern, die in Chile in jüngster Zeit über die Militärdiktatur geschrieben worden sind. Zwischen 1973 und 1990 sind in dem südamerikanischen Land laut einer offiziell eingesetzten Wahrheitskommission mehr als 3000 Menschen von Militärs und den Geheimdiensten umgebracht worden. Ein Teil dieser Opfer gilt als vermisst, weil ihre Überreste bis heute nicht aufgetaucht sind. Zählt man die politischen Gefangenen und Gefolterten in jenen Jahren hinzu, forderte die Pinochet-Diktatur der Kommission zufolge mehr als 40.000 Opfer. Jorge Escalante:
    "Solch eine Diskussion, wie sie der 40. Jahrestag des Putsches ausgelöst hat, hatte es in dieser Offenheit bisher nicht gegeben. Die politische Rechte, vor allem der reaktionäre, pinochetistische Flügel und ehemalige Militärs, behaupten, der Putsch und die Diktatur seien Schuld der sozialistischen Regierung von Salvador Allende gewesen. Die politische Linke hält dagegen, es sei unmöglich, die Konflikte der Allende-Zeit mit den Verbrechen der Diktatur zu vergleichen."

    Doch die Debatte ist nicht nur zwischen den beiden politischen Lagern entbrannt, sondern hat auch die Regierungskoalition gespalten, die ultrarechten Partei UDI und die gemäßigte Renovación Nacional, die "Nationale Erneuerung" von Präsident Sebastián Piñera. Einige Rechtspolitiker drückten wegen ihrer Unterstützung für die Pinochet-Diktatur sogar öffentlich ihr Bedauern aus oder baten um Verzeihung. Piñera selbst hat die – Zitat – "passiven Komplizen der Verbrechen" in einem Fernsehinterview kritisiert:
    "”Es gibt verschiedene Arten von Verantwortung. Einerseits die strafrechtliche Verantwortung für Morde, Folter und das Verschwindenlassen von Menschen. Dafür ist die Justiz zuständig. Anderseits gibt es eine moralische, aber auch eine politische Verantwortung. Denn verantwortlich für die Diktaturverbrechen sind nicht nur die direkt Beteiligten, sondern auch jene Personen, die damals Ämter in der Regierung bekleideten und wussten, was geschah – ihre Stimme dagegen aber nicht erhoben haben.""

    Dass Politiker der chilenischen Rechten derart deutlich auf Distanz zur Pinochet-Diktatur gehen, das ist ein Novum. Präsident Piñera kritisierte sogar die Präsidentschaftskandidatin seines eigenen Lagers, Evelyn Matthei, dafür, dass sie bei der Volksabstimmung 1988 für den Fortbestand der Diktatur gestimmt hatte. Er selbst hat immer wieder erklärt, damals sein Kreuz beim "Nein" gemacht zu haben, einem "Nein" zur Verlängerung der Pinochet-Herrschaft.

    "”Viele dachten damals, Chile sei noch nicht bereit für die Rückkehr zur Demokratie. Ich fühlte, Chile sei nicht nur bereit für die Demokratie, sondern brauche sie wie die Luft zum Atmen. Das ‚Ja‘ zur Diktatur von Evelyn Matthei war ein persönlicher Irrtum.""

    Im Wahlkampf-Team der Präsidentschaftskandidatin sorgten Piñeras Worte naturgemäß für Verstimmung. Im rechten Lager wurden Klagen laut, der Präsident, der nicht wiedergewählt werden kann, füge der Kandidatur Evelyn Mattheis Schaden zu. Allerdings liegt sie in den Umfragen ohnehin weit hinter der Mitte-Links-Kandidatin und Ex-Präsidentin Michelle Bachelet zurück. Inzwischen bemühen sich Matthei und Piñera, Geschlossenheit zu demonstrieren.

    Doch für die chilenische Öffentlichkeit hatte der Präsident Ende September noch eine Überraschung parat. Er ließ die weithin als "Luxusgefängnis" berüchtigte Haftanstalt Penal Cordillera schließen, in der zehn verurteilte Ex-Militärs einsaßen. Die Häftlinge, darunter Manuel Contreras, einer der Geheimdienstchefs während der Diktatur, sind in ein Gefängnis verlegt worden, in dem sie deutlich weniger Privilegien genießen. Ein Ex-General verübte daraufhin Selbstmord. Der Journalist Jorge Escalante:

    "”Sebastián Piñera will sich 2017 erneut für das Präsidentenamt bewerben. Meiner Meinung nach hat er das Luxusgefängnis aus politischem Kalkül geschlossen, um Punkte im Mitte-Links-Lager zu sammeln.""

    Die chilenischen Mitte-Links-Wähler würden Piñeras Schritt zwar sicher begrüßen, deswegen aber trotzdem nicht für den Rechtspolitiker stimmen, meint die Politologin Maria de los Angeles Fernandez. Sie glaubt nicht, dass der Präsident nur aus politischem Kalkül gehandelt haben könnte, denn:

    "Alle Präsidenten wollen doch an die Macht zurück! Für mich ändert das aber nichts daran, dass Piñeras Entscheidung, die Häftlinge zu verlegen, interessant ist und eine starke Symbolkraft besitzt."

    Chile ist neben Argentinien das Land Lateinamerikas, in dem die Justiz am entschlossensten und nachhaltigsten die Diktaturverbrechen aufarbeitet. Gegen mehr als 900 ehemalige Militärangehörige laufen Ermittlungsverfahren, 250 von ihnen sind bisher schon verurteilt worden. Doch nur 62 Ex-Uniformierte sitzen tatsächlich hinter Gittern. Und – anders als in Argentinien – muss in Chile kein früherer Militär seine Strafe in einem gewöhnlichen Gefängnis verbüßen, wie es Menschenrechts- und Opfer-Organisationen fordern.