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Neue Erkenntnisse zu Katyn

Mehr als 20.000 Menschen wurden 1940 vom sowjetischen Geheimdienst im polnischen Katyn ermordet. Moskau leugnete die Tat bis 1990. Jetzt hat das US-State-Department neue Dokumente zugänglich gemacht. Die Opferorganisationen interessiert vor allem die Frage, wer die Geheimhaltung angeordnet hat.

Sabine Adler im Gespräch mit Christoph Schmitz | 10.09.2012
    Christoph Schmitz: Die Massaker in einem Waldstück in der Nähe des Dorfes Katyn, unweit von Smolensk, im April/Mai 1940 konnten nur die Nazis begangen haben, dachte man. 4400 polnische Offiziere waren per Kopfschuss einzeln ermordet worden. Erst nach dem Krieg, 1952, kamen die Fakten ans Tageslicht. Nicht die Nazis, sondern auf Befehl Stalins hatten Mitglieder des sowjetischen Innenministeriums die Polen abgeschlachtet. Aber nicht nur die Offiziere in Katyn, sondern an mindestens fünf weiteren Orten insgesamt bis zu 25.000 polnische Offiziere, Priester, Intellektuelle. Bis 1990 wurde die Tat von den Regierungen in Moskau geleugnet, erst Michail Gorbatschow, als neues Archivmaterial veröffentlicht worden war, räumte die Verantwortung der Sowjets an den Massenmorden ein. Andschei Wajdas Film "Das Massaker von Katyn" durfte in russischen Kinos dennoch nicht gezeigt werden, er wurde allerdings im Fernsehen ausgestrahlt. 2010 dann gedachten die Ministerpräsidenten Russlands und Polens, Putin und Tusk, in Katyn erstmals gemeinsam der Verbrechen. Die noch lebenden Täter wurden strafrechtlich nicht verfolgt, und im vergangenen April verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland wegen "Menschenunwürdiger Behandlung der Angehörigen" der Opfer von damals. Neue Dokumente sind heute der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, im Internet. Das State Department in den USA hat sie aus verschiedenen staatlichen Quellen zusammengestellt. Von wem stammen die Dokumente und welche Dokumente sind es, habe ich Sabine Adler gefragt, Osteuropa-Korrespondentin des Deutschlandradios in Warschau?

    Sabine Adler: Ja das sind verschiedene Institutionen der USA. Unter anderem sind das Ministerien, also das Verteidigungsministerium unter anderem, auch das Außenministerium. Es sind diplomatische Vertretungen der USA, die Armee, der Geheimdienst. Diese Institutionen haben Dokumente zur Verfügung gestellt. Es sollen auch private Dokumente darunter sein, Aufzeichnungen der Präsidenten Roosevelt, Truman und Eisenhower, also der Kriegs- beziehungsweise Nachkriegspräsidenten. Diese Dokumente sollen ab heute auf einem Internet-Portal zur Verfügung stehen, und was daran ganz besonders spannend ist – jedenfalls wird das hier in Polen doch sehr genau beobachtet -, es sollen auch den Insidern bekannte Dokumente darunter sein, nämlich der sogenannte Ray. John Madden-Bericht. Das ist derjenige, der von den USA 1952 in einer Kommission Zeugenaussagen zusammengetragen hat. Und es gibt einen anderen Bericht, nämlich von John Van Vliet. Der war damals ein US-Kriegsgefangener der Deutschen, der ist 1943 von den Deutschen zusammen mit dem Roten Kreuz, dem Internationalen Roten Kreuz nach Katyn geführt worden und hat eben die Exhumierung unter anderem miterlebt. Er hat einen Bericht verfasst, der auch seltsamerweise dann in den Archiven in den USA verschwunden ist.

    Schmitz: Welche offenen Fragen könnten denn mit Hilfe dieser Dokumente beantwortet werden, oder welche Fragen erhofft man sich zu beantworten?

    Adler: Das, was aus amerikanischer Sicht sicherlich das spannendste sein wird, ist: welche Rolle hat eigentlich Roosevelt in Bezug auf Katyn im Zweiten Weltkrieg gespielt. Da gibt es einen Verdacht, nämlich dass er sehr wohl wusste, dass es die Sowjetunion war beziehungsweise das NKWD, also eine Abteilung des KGB, des Geheimdienstes, die da in einer fürchterlichen Aktion über Wochen 22.000 polnische Offiziere und Priester, Lehrer, also Angehörige der Intelligenz, mit deutschen Pistolen erschossen hat. Davon soll Roosevelt gewusst haben, das werden die Dokumente hoffentlich dann auch zeigen, und er hat darüber geschwiegen, weil er die Sowjetunion als alliierten Partner im Kampf gegen Nazi-Deutschland gebraucht hat und aus diesem Grund die Sowjetunion nicht mit diesem ungeheueren Verdacht konfrontieren wollte und vielleicht als Partner verlieren könnte.

    Das, was aber wiederum die Katyn-Opfer und die Opferorganisationen derjenigen, auch Familienangehörigen, die sich jetzt noch dafür interessieren, was die viel, viel spannender finden, das ist: Wer hat eigentlich diese Geheimhaltung angeordnet? Dass das Verbrechen passiert war, das ließ sich ja nun kaum geheim halten. Aber wer es begangen hat, das war ein nun wirklich sehr, sehr gut gehütetes Geheimnis. Bis 1990, bis es damals die Sowjetunion, Gorbatschow und Jelzin in Gestalt, tatsächlich zugegeben haben, war es immer noch der ausgesprochene Verdacht, dass es Nazi-Deutschland war, dass es die Nazis waren, die diese Verbrechen begangen haben, und dies eben nicht der Sowjetunion anzulasten war. Das, was die Opferfamilien heute interessiert, ist: Warum hatte wer ein solches Interesse, dieses Geheimnis so streng zu hüten?

    Schmitz: Gibt es schon Reaktionen polnischer Historiker?

    Adler: Die gibt es noch nicht. Die Historiker warten gespannt darauf. Sie wissen auch sehr genau, dass es sozusagen einen Wust an Material geben wird. Es wird sicherlich Veröffentlichungen der wichtigsten Dokumente geben, die dort herausgegeben werden oder auf diese Portale gestellt werden. Aber es wird eine wirklich gewisse Zeit brauchen, darauf sind alle eingestellt, das Material jetzt nun auch zu sichten und zu werten und zu schauen, was ist davon in der Lesart so wichtig, dass man vielleicht sogar diese Geschehnisse noch mal neu bewerten müsste.
    Bei den Opferfamilien ist es so, dass sie sagen, das was heute geschieht, nämlich die Dokumente ins Internet zu stellen, das ist richtig und wichtig. Aber das enthebt vor allem eine Seite nicht der Verantwortung, nämlich die russische Seite. Die müssen nun auch endlich mal ihre Archive öffnen, wie das so oft schon angekündigt wurde, aber nie wirklich umfänglich wahr gemacht wurde.

    Schmitz: Sabine Adler über die Veröffentlichung neuer Dokumente zum Massaker von Katyn.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.