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Auf sich allein gestellt

Die Odyssee einer Migrantin durch Moskau zeigt der Film "Ayka". Von einer Mutter, deren Sohn sich völlig von der Außenwelt abgeschottet hat, erzählt "Goliath96". Ein Pflichtverteidiger wird in dem Justizdrama "Der Fall Collini" mit seinem ersten großen Fall konfrontiert.

Von Jörg Albrecht | 17.04.2019
Szene aus dem Film "Ayka". Zu sehen ist die Protagonistin.
Eine Szene aus dem Film "Ayka". (imago stock&people)
Ayka wird nur von einem Gedanken getrieben: Sie will abhauen aus dem Krankenhaus, wo sie erst vor wenigen Stunden entbunden hat. Gewaltsam öffnet sie ein verschlossenes Fenster und türmt. Ihr Baby lässt die junge Frau zurück. Wie benommen taumelt Akya durch die verschneiten Straßen Moskaus. Wenig später werden wir sie mit schmerzverzerrtem Gesicht in einem schäbigen Hinterhof zusammen mit anderen Frauen Hühner rupfen sehen.
Intensiv und hart
Direkt die ersten Minuten in "Ayka" – der Film heißt wie seine Protagonistin – zeigen eine Intensität und eine Härte, die nur schwer auszuhalten sind. Die Flucht aus der Klinik: Für Ayka ist sie der Beginn einer Odyssee.
"Können Sie mir helfen? Ich brauche dringend Arbeit. Ganz egal was. Bitte!"
Ayka, die aus Kirgisien stammt und die sich seit Monaten ohne gültige Arbeitserlaubnis mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, braucht dringend Geld. Nicht nur, um in Moskau zu überleben. Akya hat Schulden gemacht bei Leuten, die keinen Spaß verstehen, wenn man sie ihnen nicht zurückzahlt.
"Denkst du, du kannst dich vor uns verstecken?"
"Sie haben mir mein Geld nicht gegeben. Deshalb."
"Du bescheißt mich."
Eine unbarmherzige Welt
Es ist eine Welt ohne Mitleid, ohne Menschlichkeit, durch die sich Ayka schlagen muss. Ihr Überlebenskampf wird durch die Bilder von einem eisigen, feindlichen Moskau noch verstärkt. Der kasachische Regisseur Sergei Dvortsevoy fängt das alles mit einer Handkamera ein, die der Protagonistin nicht von der Seite weicht. Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova ist für ihre Tour de Force 2018 in Cannes völlig zu Recht mit dem Preis für die beste Schauspielerin ausgezeichnet worden.
"Ayka": empfehlenswert
Es beginnt mit Bildern aus glücklichen Tagen: Eine Familie macht Urlaub am Meer. Dann geht der Vater aus dem Bild und bleibt verschwunden. Viele Jahre später droht Kristin nach ihrem Ehemann jetzt auch ihren mittlerweile erwachsenen Sohn David zu verlieren. Dabei trennt die Beiden nur eine geschlossene Zimmertüre.
"Alle fragen nach dir. Ich habe gesagt, dass du in Texas studierst. Weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll."
Sätzen wie diesen, die Katja Riemann als Davids verzweifelte Mutter sagt, merkt man die Drehbuchschwächen von Marcus Richardts Spielfilmdebüt "Goliath96" an. Eher unbeholfen skizzieren sie die familiäre Situation. Denn David hat sich nicht erst seit wenigen Tagen oder Wochen von der Außenwelt abgenabelt. Er verlässt das Reihenhaus seit nunmehr zwei Jahren nicht mehr und sein Zimmer nur dann, wenn Kristin schläft.
"Komm da raus! Komm da raus, David! Ich kann nicht mehr."
Extreme Isolation
"Goliath96" behandelt ein gesellschaftliches Phänomen, das seit rund 20 Jahren mit dem japanischen Wort Hikikomori beschrieben wird: Jugendliche oder junge Erwachsene kapseln sich von der Außenwelt ab und verlassen ihr Elternhaus nicht mehr. Was genau bei David zur selbstgewählten Isolation geführt hat, bleibt allerdings bis zum Ende offen.
Konzentriert sich das kammerspielartige Drama anfangs völlig auf Kristin, ihre Verzweiflung und Wut, zeigt "Goliath96" in der zweiten Hälfte die Annäherung von Mutter und Sohn über das Internet. Im virtuellen Raum täuscht Kristin eine andere Identität vor. Dann wird der Film stärker und die Figuren gewinnen an Profil.
"Goliath96": zwiespältig
"Wollen Sie zuvor mit Ihrem Mandanten sprechen, Herr Rechtsanwalt?"
"Warten Sie? Bis gleich."
Ein Anwalt – noch grün hinter den Ohren – bekommt einen spektakulären Fall, bei dem er über sich hinauswachsen muss. Normalerweise würde man einen solchen Filmstoff im anglo-amerikanischen Rechtssystem verorten, womöglich hätte John Grisham die Vorlage geschrieben. Der Anwalt aber wird von Elyas M’Barek gespielt, den Stoff hat sich Ferdinand von Schirach ausgedacht und als Grundlage dient die deutsche Rechtsprechung.
"Sie werden vermutlich wegen Mordes angeklagt. Sie könnten lebenslänglich bekommen. Wenn eine Tat emotional nachvollziehbar ist, dann kann das die Strafe mildern. Warum haben Sie es getan?"
Beharrliches Schweigen
Da die Antwort des Angeklagten Fabrizio Collini nur beharrliches Schweigen ist, will der Anwalt den Grund für den Mord an einem Industriellen selbst ermitteln. Ferdinand von Schirach konfrontiert den Pflichtverteidiger dabei immer wieder mit seinem Gewissen, seinem Berufsethos. Ihm war der Ermordete nicht nur persönlich bekannt. Er war für ihn auch ein Ersatzvater.
"Wie kannst du das machen, nach allem, was Großvater für dich getan hat?"
"Ich bin Anwalt. Als Arzt müsste ich auch einem Serienmörder das Leben retten."
Wie immer in den Büchern von Schirachs dreht sich auch hier alles um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, diesmal um den Verjährungsskandal aus dem Jahr 1968. Was der mit dem fiktiven Collini-Fall zu tun hat, wird an dieser Stelle nicht verraten. Wer allerdings eins und eins zusammenzählen kann, wird das schnell selbst herausfinden in diesem handwerklich sauberen, aber mit überflüssigen Nebenfiguren in die Länge gezogenen und nicht gerade sonderlich aufregenden Justizdrama.
"Der Fall Collini": akzeptabel