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Neue Filme
Trauma der Vergangenheit

Erlebnisse, die sich zum Trauma ausgeweitet haben, sind Thema in zwei neuen Kinofilmen: "Freistatt", Spielfilmdebüt von Marc Brummund, erzählt aus einem Heim für schwer erziehbare Jungen in den 60ern. Die japanische Kriegsgefangenschaft verfolgt einen britischen Soldaten in "Die Liebe seines Lebens". Außerdem neu im Kino: die Dokumentation "Dior und ich".

Von Jörg Albrecht | 24.06.2015
    Colin Firth als Schotte Eric Lomax und Nicole Kidman als Krankenschwester Patti in einer Szene des Kinofilms "Die Liebe seines Lebens - The Railway Man"
    Colin Firth als Schotte Eric Lomax und Nicole Kidman als Krankenschwester Patti in einer Szene des Kinofilms "Die Liebe seines Lebens - The Railway Man" (dpa / picture alliance / Jaap Buitendijk/Koch Films GmbH)
    "Die Liebe seines Lebens" von Jonathan Teplitzky
    "Ich bin vorher nie im schottischen Hochland gewesen. Und jetzt bin ich nun mal wieder allein und da dachte ich, ich würde es gern sehen. ... Was sagen Sie dazu? - Die Westküste ist außerordentlich schön. Vielleicht verlieben Sie sich in sie. - Und wenn ich mich verliebe - was dann?"
    Statt in die schottischen Highlands wird sich Patti in ihn, in Eric verlieben. Und Eric in sie, die Frau aus seinem Zugabteil. Es dauert nicht lange und die Hochzeitsglocken läuten. "Die Liebe seines Lebens" heißt dieser Film. Und der kitschige Titel könnte, wenn man nur die ersten Minuten des Films zugrunde legt, kaum passender gewählt sein. Plötzlich aber verändert der vermeintliche Liebesfilm abrupt seinen Ton. Im Traum erscheint Eric ein japanischer Offizier.
    "Nein - nicht da rein! Der Krieg ist vorbei. - Nicht für dich, Lomax! ..."
    Es sind Erics Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs, die ihn auch 35 Jahre danach noch bis in seine Träume verfolgen. "Die Liebe seines Lebens", im Original "The Railway Man" - ein Verweis auf Erics lebenslange Leidenschaft für Eisenbahnen - erzählt stellvertretend von all den Menschen, die durch Kriegshandlungen oder Gefangenschaft traumatisiert worden sind.
    "Wo immer der Mensch war, gab es Krieg. - Wo immer Krieg war, gab es Krankenschwestern wie mich, die Menschen wieder gesund machen. - Ich glaube nicht, dass ich geheilt werden kann."
    Erics seelische Verwundungen rühren aus den Monaten, in denen er sich in japanischer Kriegsgefangenschaft befand. Sie äußern sich sowohl in Sprachlosigkeit als auch in Rachegedanken.
    Anders als in Angelina Jolies thematisch ganz ähnlichem Film "Unbroken" über einen amerikanischen Soldaten in einem japanischen Gefangenenlager ist Eric kein unbeugsamer Held. Anders als "Unbroken" ist "Die Liebe seines Lebens" auch kein unverhohlener Propagandastreifen. Bei der Darstellung von Erics posttraumatischer Belastungsstörung glänzt Colin Firth mit seinem zurückhaltenden, unprätentiösen Spiel. Aber der sensible Film des Australiers Jonathan Teplitzky will noch mehr. Er erzählt auch wohltuend unpathetisch von der Chance auf Vergebung und Versöhnung.
    "Ich bin überrascht, dass Sie nicht erkennen, wer ich bin. Setzen Sie sich, Mr. Nagase! - Lomax. - Diesmal brauchen wir keinen Übersetzer. ..."
    Am Ende wird Eric noch einmal auf seinen Peiniger aus Kriegstagen treffen.
    "Die Liebe seines Lebens": empfehlenswert
    "Dior und ich" von Frédéric Tcheng
    " ... We have a long way to go ... thank you for your very welcome in your family. ..."
    Chefdesigner Raf Simons stößt mit seinen Mitarbeitern auf die erst Haute-Couture-Kollektion an, die er für die Marke Dior entworfen hat und die am nächsten Tag ihre große Premiere erleben soll. Er hoffe, so Simons, dass sie einen langen, gemeinsamen Weg miteinander gehen werden. Außerdem bedankt er sich für die Aufnahme in ihrer Familie. 2012 ist Raf Simons dem in Ungnade gefallenen John Galliano gefolgt als künstlerischer Direktor der Damenkollektionen von Dior.
    Der französische Filmemacher Frédéric Tcheng hat die ersten Monate des neuen, nicht unumstrittenen Hoffnungsträgers mit der Kamera begleiten können. Dabei verknüpft Tcheng seine Streifzüge durch die Ateliers und Büros mit dem Leben und Wirken von Christian Dior, dem Gründer des Modeunternehmens. Entstanden ist eine zwar stets lebendige, aber auch etwas oberflächliche Dokumentation über die Welt von Dior gestern und heute.
    "Dior und ich": akzeptabel
    "Freistatt" von Marc Brummund
    "Renitent. Ungehorsam. Sechs Monate Erziehungsheim Heidequell. Nach drei Monaten ausgerissen. Aggressives Verhalten. - Ich habe mich nur gewehrt. Ich bin nur hier, weil mein Stiefvater mich loswerden will. - Weißt du Wolfgang, ich halte große Stücke auf die Gutachten vom Jugendamt."
    Im Sommer 1968 kommt der 14-jährige Wolfgang in die Diakonie Freistatt. Ein Heim für schwer erziehbare Jungen, das mit seinen vergitterten Fenstern einem Gefängnis gleicht. Militärischer Drill und Züchtigung durch die Aufseher, die als "Brüder" angesprochen werden müssen, gehören zur Tagesordnung, Zwangsarbeit ebenso. Täglich rücken die Zöglinge zum Torf abstechen ins nahegelegene Moor aus. Wolfgang, schmächtig, aber entschlossen, will sich nicht unterkriegen lassen: weder von den "Brüdern" noch von den anderen Jungen.
    "Du denkst, ich bin ein mieses Schwein. Aber hier drin musst du mitmachen. Sonst schaffst du es nicht. ... Spätestens Weihnachten bin ich hier weg. ..."
    Leicht könnte ein Film über das Leben in einer Besserungsanstalt in Klischees versinken. Und hin und wieder bemüht Autor und Regisseur Marc Brummund auch die bekannten Bilder aus Gefängnisdramen. Dennoch überzeugt "Freistatt" mit seinen erstaunlich differenziert gezeichneten Figuren, mit feinem Gespür für ökonomisches Erzählen und vor allem mit einem beeindruckenden Louis Hofmann in der Hauptrolle.
    Louis Hofmann im Foyer des Deutschlandfunks.
    Louis Hofmann erhielt für seine Darstellung des Wolfgang in "Freistatt" den Bayerischen Filmpreis als bester Nachwuchsschauspieler. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    "Freistatt": empfehlenswert