Freitag, 29. März 2024

Archiv

Neue Heimat Triest (3/5)
Integration als Vollzeitjob

Triest hat Pionierarbeit geleistet. Als eine der ersten Städte Italiens hat sie ein Schutzprogramm für Flüchtlinge entwickelt. Inzwischen kümmern sich 400 lokale Gruppen um die Integration von Neuankömmlingen. Gianfranco Schiavone hat die Flüchtlingshilfe zu seiner Lebensaufgabe gemacht.

Von Kirstin Hausen | 01.08.2018
    Ein Flüchtling schläft im alten Hafen von Triest
    In Triest versuchen die Menschen seit mehr als 25 Jahren sich um Menschen auf der Flucht zu kümmern (Archivbild 2015) (imago)
    Kaffeehausbesitzer Alexandros Delithanassis hat seinen Stammplatz am vordersten Tisch draußen vor dem Café eingenommen. Er raucht, nippt an einem Bier und hört aufmerksam zu, was Gianfranco Schiavone ihm vorschlägt. Ob er nicht noch eine Küchenhilfe brauchen könne? Aushilfsweise? Als Saisonkraft? Er suche eine Arbeitsmöglichkeit für eine Irakerin mit genehmigtem Asylantrag, die sich für Gastronomie interessiere. Sie habe studiert, spreche fließend Englisch, wisse mit Menschen umzugehen. Gianfranco Schiavone ist Präsident des Hilfswerks ICS in Triest, das sich um die Aufnahme von Flüchtlingen und die Integration anerkannter Asylbewerber kümmert. Und zwar seit mehr als 25 Jahren. Der Balkankrieg war für den knapp 50-Jährigen die Initialzündung, sich zu engagieren.
    "Unser Verein hat von Triest aus ein Netzwerk koordiniert, in dem sich 1992 Bürger und Gemeinden aus ganz Italien zusammengeschlossen hatten, um Bosnienflüchtlingen Aufnahme zu gewähren. Damals gab es noch keine sozialen Spannungen, keine Feindseligkeit, wie wir sie heute spüren."
    Erste italienische Stadt mit Schutzprogramm für Flüchtlinge
    Die Geflüchteten wurden damals privat untergebracht. Bei Triestiner Familien. Allein, zu zweit, Mütter mit Kindern. Es gab keine staatliche Unterstützung, dafür viel Solidarität und finanzielle Hilfe von lokalen Unternehmen und Privatleuten. Die zweite Flüchtlingswelle 1999, diesmal aus dem Kosovo, traf Triest schon besser vorbereitet. Aufnahmelager zur Erstversorgung wurden eingerichtet, so wie es sie heute in ganz Italien gibt.
    "Triest war die erste Stadt in Italien, die ein Schutzprogramm für Flüchtlinge entwickelt hat. Auch damals wurden zunächst Militärkasernen als Notunterkünfte genutzt, aber es ging dann schnell um Integration und das Einbeziehen der Flüchtlinge ins Alltagsleben. Aus der Erfahrung von damals sind mehr als 400 lokale Gruppen entstanden, die heute noch in der Integrationsarbeit engagiert sind. Triest war hier Pionier. Heute werden 30.000 Flüchtlinge so betreut."
    Diskussionen um Hotspots, Umverteilung und Aufnahmequoten
    Gianfranco Schiavone hat die Flüchtlingshilfe zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Er kennt die Schwierigkeiten vor Ort, aber auch die gesetzlichen Grundlagen. Sein Hilfswerk hat zusammen mit der italienischen Caritas und weiteren Nichtregierungsorganisationen Vorschläge für eine gerechtere Flüchtlingspolitik in Europa vorgelegt. Er hat die Diskussionen der EU-Mitgliedsstaaten zu Hotspots, Plattformen, Umverteilung und Aufnahmequoten persönlich miterlebt. Und ist ernüchtert nach Triest zurückgekehrt. Einen politischen Willen, das globale Flüchtlingsphänomen gemeinsam anzugehen, habe er nicht erkennen können. Jedes EU-Mitglied versuche nur, die Ankünfte im eigenen Land zu reduzieren. Solidarität Fehlanzeige. Gianfranco Schiavone ist enttäuscht. Eine gesunde Reaktion, nennt diese Politik dagegen Pierpaolo Roberti, Lega-Abgeordneter aus Triest. Er möchte die Aufnahme weiterer Flüchtlinge am liebsten verbieten.
    "Triest hat sich in ein großes Aufnahmezentrum verwandelt. Wir haben mehr als 1.000 Asylbewerber in der Stadt! Bis vor zwei, drei Jahren war von 15 bis 20 Flüchtlingen die Rede und gegen diese hätte niemand etwas gesagt. Aber wir haben es mit 1.000 Personen zu tun und das nenne ich eine Invasion unserer Stadt."
    Wohin steuert Europa in der Flüchtlingspolitik?
    Während Alexandros Delithanassis und Gianfranco Schiavone noch die Möglichkeit einer probeweisen Anstellung der Irakerin besprechen, hat im hinteren Teil des Antico Caffè San Marco der Bischof von Triest das Wort ergriffen. Er stellt den Flüchtlingsreport 2018 vor, den die katholische Stiftung "Migrantes" herausgegeben hat. Zahlen, Fakten, Statistiken, Analysen. Eine Frau um die 50 hat bereits drei Exemplare des Buches gekauft – eins für sich, die anderen will sie verschenken. Sie sorgt sich um das politische Klima in ihrem Land.
    "Wir können das Problem der Migration doch nicht lösen, indem wir unsere Häfen schließen. Hier werden politische Machtkämpfe auf Kosten dieser verzweifelten Menschen ausgetragen. Aber inzwischen werden sie gar nicht mehr als menschliche Wesen so wie wir betrachtet, sondern als etwas anderes."
    Auf diese De-Humanisierung der Flüchtlinge im politischen Diskurs geht auch eine der Autorinnen des Flüchtlingsrapports 2018 ein – Mariacristina Molfetta.
    "Es fallen Tabus, aber das passiert nicht so plötzlich wie es jetzt vielleicht scheint. Die gezielte Desinformation, die zu einer Wahrnehmung des Flüchtlingsphänomens geführt hat, die nicht der Realität entspricht, begann in Italien schon vor 20 Jahren. Sie zeigt ihre Wirkung, indem die Öffentlichkeit Maßnahmen unterstützt, die gegen die Menschenrechte verstoßen. Das ist sehr beunruhigend. Es reicht, ein Feindbild zu konstruieren, um diesem Feind seine Rechte abzusprechen, ihn in die Illegalität zu verbannen und Schlimmeres."
    Inzwischen hat Gianfranco Schiavone das Wort ergriffen. Auch er gehört zu den Autoren des Flüchtlingsreports. Er fragt sich, wohin Europa steuert und ob die Gemeinschaft nach der mehr ausgesessenen als ausgestandenen Schulden-Krise eventuell an der Flüchtlingskrise zerbrechen wird.