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Neue Hilfe bei Essanfällen

Magersucht und Bulimie sind nicht die einzigen Essstörungen. Schätzungsweise ein bis fünf Prozent der Deutschen leiden an regelmäßigen Essanfällen, der sogenannten Binge-Eating Störung. Wissenschaftler haben jetzt eine Online-Therapie entwickelt, um diesen Menschen besser zu helfen.

Von Anna-Lena Dohrmann | 10.01.2012
    "Wenn man sich dann eingeloggt hat, sieht man dann einen Posteingang – quasi wie bei E-Mails, wo man eben die Nachrichten austauscht mit dem Therapeuten."

    Isabell Fischer öffnet gerade das Online-Portal, über das Sie vier Monate lang eine Therapie gemacht hatte. Denn die 23-jährige litt an der sogenannten Binge-Eating-Störung. Das heißt: Sie hatte mindestens zwei Essanfälle pro Woche. Sie erinnert sich genau an diesen Zwang:

    "Dass ich einfach gedacht habe, du musst jetzt etwas essen und dann bin ich was essen einkaufen gegangen, einfach weil ich – richtig aus Kontrollverlust. Und dann kommt man nach Hause und reißt die Tüte auf und die Tüte auf und stopft sich das in sich rein. Anfangs ohne dass man das merkt, dass man das gerade tut und später dann feststellt: Was machst du hier eigentlich? Aber das trotzdem nicht stoppen kann. Das hat dann erst aufgehört, wenn man wirklich so voll war, dass einem schlecht war."

    Dann kamen Schuld- und Schamgefühle, Ekel vor sich selber. Doch im Unterschied zur Bulimie übergeben sich Binge-Eating-Patienten nicht. Sie treiben auch nicht exzessiv Sport oder fasten tagelang nach einem Essanfall. Sie fühlen sich einfach nur schlecht, nehmen sich vor, dass es nicht wieder passiert. Bei Isabell Fischer passierte es aber wieder und wieder. Deshalb hat sie nach einer geeigneten Therapie gesucht – und das Online-Angebot der Universität Leipzig entdeckt. Dr. Birgit Wagner erforscht seit vielen Jahren die Wirkung von Online-Therapien. Sie leitet die laufende Studie mit Binge-Eating-Patienten:

    "Also die Online-Therapie, das merken wir auch immer wieder, hat schon große Vorteile, wenn es darum geht, dass man Menschen abholt, die vielleicht sonst keine Therapie aufsuchen würden, weil es ja doch ein relativ anonymisiertes Therapieangebot ist, wo man sich also auch nicht sieht."

    Inhaltlich basiert die Online-Therapie dabei auf den Kenntnissen aus der normalen Sprechzimmertherapie, so Wagner:

    "Das heißt, es wird alles sozusagen umgesetzt in Form von einer Schreibtherapie, wo beispielsweise Patienten beschreiben sollen: ihren ersten Essanfall, den sie hatten oder wie so ein Essanfall klassischerweise aussieht. Und sie bekommen dann therapeutische Rückmeldung auf den Text."

    Der erste Schritt der Therapie ist ein bewusst werden darüber, in welchen Situationen ein Essanfall auftritt. Ein weiterer Schwerpunkt liegt dann darin, regelmäßiges Essen zu lernen.

    "Also Binge-Eating-Patienten essen beispielsweise am Morgen fast gar nichts, und dann am Nachmittag das erste Mal und dann am Abend extrem viel. Und es geht eigentlich darum, dass die Patienten fünf Mahlzeiten am Tag lernen wieder zu sich zu nehmen. Also es ist kein Abnehmprogramm, sondern es geht wirklich darum, eine Essstruktur wieder neu zu erlernen, und ja, auch gesundes Essen zu lernen."

    Deshalb sind Esstagebücher ein weiterer wichtiger Baustein der Therapie. Die Patienten geben darin so detailliert wie möglich an, was sie wann gegessen haben und auch, wie sie sich dabei gefühlt haben. All das tragen sie in dem Online-Portal ein, sodass der Therapeut Einsicht hat.
    Für Isabell Fischer war diese Form der Therapie genau richtig:

    "Also es war auch alles wichtig, was ich gemacht habe: Jede Schreibaufgabe, das Tagebuch führen, meine Gefühle beschreiben – ja. Einfach das Schreiben ist auch befreiend, und man muss aber nicht jemandem dabei in die Augen blicken oder jemand Fremden das so erzählen. Und deswegen denke ich, ist die Online-Therapie sehr vorteilhaft."

    Ein weiterer Vorteil ist, dass Therapeut und Patient geografisch und zeitlich vollkommen unabhängig voneinander sind. So sind Online-Therapien sehr erfolgreich. Isabell Fischer strahlt. Seit Beginn der Therapie vor einem halben Jahr hatte sie keinen Essanfall mehr. Trotzdem bleibt sie realistisch:

    "Zum einen bin ich schon geheilt davon, aber ich würde sagen nicht komplett. Es dauert halt einfach auch eine Weile, weil sich das über Jahre in mein Gehirn quasi eingebrannt hat und es einfach auch eine Weile dauert sich das neue Verhalten einzuprägen."