Dienstag, 19. März 2024

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Neue Kammermusik aus Mexiko
Metamorphosen des Hörens

Víctor Ibarra bricht in seinen Kompositionen mit Hörgewohnheiten. Eruptionen und harte Schnitte kennzeichnen seine Musik. In Deutschland ist er noch wenig bekannt, um das zu ändern, hat das spanische Ensemble Vertixe Sonora sechs seiner Werke eingespielt.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 01.11.2020
    Ein schwarzhaariger Mann ist im Porträt vor einer südländisch anmutenden Städtekulisse zu sehen.
    Ausgewiesener Spezialist für Ensemblemusik: der mexikanische Komponist Víctor Ibarra (Alejandra Reyes)
    Musik: Víctor Ibarra - "Alice..."
    Musik des zeitgenössischen mexikanischen Komponisten Víctor Ibarra, Jahrgang 1978 berührt eine grundsätzliche Frage der Gegenwartskunst. Im Mittelpunkt stehen die Möglichkeiten individueller sinnlicher Erfahrbarkeit. Dabei geht es um jenen Moment, in dem Kunst, Physis und Umgebung über die subjektive Wahrnehmung des Hörers oder Betrachters eine bestimmte Verbindung eingehen. Über dieses Zusammenspiel definiert sich dann die Intensität eines Kunstwerks und die jeweils ausgelöste Empfindung.
    Bei Víctor Ibarra geht es um eine Klangkunst, die zunächst auf Brüche und Wandlungen zielt, um beim Hörer einen ungewohnten Umgang mit Klangerwartungen zu provozieren. "Dimension des Fragilen" – unter diesem Titel präsentiert eine kürzlich beim Label NEOS erschienene Portrait-CD den Komponisten mit Kammermusik für verschiedene Besetzungen aus den Jahren 2011 bis 2015. Die Einspielung gestaltete das Ensemble Vertixe Sonora unter der künstlerischen Leitung von Nacho de Paz - aufgenommen wurde 2019 im portugiesischen Porto.
    Eine klanglich eindrucksvolle und musikalisch packende Produktion, die knapp 65 Minuten lang belegt, in welch vielschichtigen Dimensionen Ibarra unterschiedliches Material mit präziser harmonischer Struktur, rhythmischer Energie und instrumentaler Virtuosität gestaltet und das Ohr mit Überraschungen konfrontiert. Mit "Alice..." für Bassklarinette, Percussion und Ensemble beginnt die Reise in Ibarras Klangwelten. Entwicklung wird hier zu einem konstituierenden Prinzip und Verwandlungsprozesse markieren dabei die Ästhetik von Víctor Ibarra.
    Musik: Víctor Ibarra - "Alice..."
    Strukturen aus der Architektur
    1978 wird Víctor Ibarra in Mexiko geboren, wo er heute eine Professur für Komposition innehat. Studiert hat er in seinem Heimatland, sowie in Frankreich und der Schweiz. Er wurde mit zahlreichen internationalen Kompositionspreisen ausgezeichnet. Seit 2014 ist er Mitglied des Nationalfonds für Kunst und Kultur in Mexiko und hat eine Professur für Komposition an der Universität von Guanajuato.
    Die Kompositionen von Víctor Ibarra fragen nach Zusammenhängen zwischen dem unmittelbaren Hören und den individuellen Erwartungshaltungen, die Ibarras Werktitel aufrufen. Seine Klangwelten erwecken den Eindruck von Rätselhaftem, obwohl klare Strukturen durchaus erkennbar bleiben. Wenn man sich auf das sehr informative, aber äußerst komplex formuliert begleitende Booklet einlässt, erklären sich Motivation und ästhetischer Hintergrund des Komponisten.
    Zur Annäherung an Ibarra’s Kompositionssprache nimmt Autor Jorge Torres Sáenz den Hörer an die Hand und bedient sich einiger Begriffe aus der Architektur. Mit Erklärungen zu "Schwelle", "Kante" oder "Fläche" versucht er, die jeweilige Atmosphäre auf bestimmte Klangkonstellationen zu übertragen. Die Idee der Schwelle als Raumteiler zieht sich wie ein roter Faden durch alle auf der CD eingespielten Kompositionen. Sie wird hier nicht zu einer konkret Raum trennenden Stufe zwischen zwei Räumen hörbar, sondern im Sinne einer permanenten Klangverwandlung. Dieser Prozess greift u.a. in dem Kammermusikwerk "Estudio sobre el gris y el verde" aus dem Jahr 2011 - hier zu erleben mit dem Ensemble Vertixe Sonora.
    Musik: Víctor Ibarra - "Estudio sobre el gris y el verde"
    Das Ensemble Vertixe Sonora mit Sitz in Galicien (Spanien), hat sich 2010 unter seinem künstlerischen Leiter Ramón Souto als flexibles Kollektiv formiert und ist in der internationalen Musikszene nicht unbekannt. Eine intensive und weltweite Zusammenarbeit mit Komponisten führte zur Uraufführung von inzwischen über 180 Werken. Auf spanischen Konzertpodien ist das Ensemble mit verschiedenen Dirigenten regelmäßig präsent und gastiert darüber hinaus im Rahmen diverser europäischer Festivals für zeitgenössische Musik.
    Die Arbeit von Vertixe Sonora portraitiert auch der Dokumentarfilm von Manuel del Rio, der unter dem Titel "Correspondencias sonoras" im Internet abrufbar ist. Die vorliegende Einspielung mit Werken von Víctor Ibarra dirigiert der Spanier Nacho de Paz, 1974 in Oviedo geboren. Er hat viel Gespür für Details. Nach seinem Klavier- und Musikwissenschaftsstudium kam er über Arturo Tamayo und Pierre Boulez zum Dirigieren und konzentriert sich auf das 20. und 21. Jahrhundert. Neben Gastdirigaten bei internationalen Ensembles für zeitgenössische Musik leitete er auch die spanischen Erstaufführungen von Luigi Nonos "Prometeo" und Karlheinz Stockhausens "Gruppen".
    Mit dem nächsten Stück "Homenaje a Francisco Toledo" für Saxofon und Ensemble versucht Ibarra die Atmosphäre des künstlerischen Schaffens des 2019 verstorbenen Malers Francisco Toledo aus Mexiko einzufangen - vor der Kulisse subjektiver Erfahrungen.
    Musik: Víctor Ibarra - "Homenaje a Francisco Toledo"
    Verwandlung als ästhetisches Prinzip
    Víctor Ibarras Kompositionen versuchen etwas subjektiv Erlebtes aufzurufen, das - so Jorge Torres Sáenz im Booklet - "in Musik verwandelt, eine neue Vergegenwärtigung erfährt". Ibarras Arbeiten greifen auf unterschiedliches Material zurück - sie bewegen sich vielfach in mikrotonalen Bereichen, lassen trotz instrumentaler Virtuosität klare Strukturen erkennen und sind voller rhythmischer Energie. Letztere rückt vor allem dann in den Vordergrund, wenn statt Verwandlungen im Sinne einer "Schwelle" plötzliche und unerwartete Wechsel eintreten, die sich bei Ibarra mit dem Begriff der "Kante" fassen lassen.
    Die abrupten klanglichen Einschnitte halten das Ohr in permanenter Wachsamkeit, richten die Wahrnehmung neu aus und sorgen somit für einen ständig neuen Ausgangspunkt beim Hören.
    Auch die Werktitel bergen bei Víctor Ibarra Brüchiges, wobei sie nur als Wink oder Andeutung verstanden werden wollen und in sich auch Spuren von etwas anderem tragen können. In erster Linie handelt es sich um das Aufrufen bestimmter Stimmungen oder Erinnerungen an Orte, die sich beim Komponisten aus ganz persönlicher Perspektive eingraviert haben, so wie beispielsweise in "Paris wind behind me" aus dem Jahr 2016.
    Musik: Víctor Ibarra - "Paris wind behind me..."
    Kraft des Moments versus Gedächtnis
    Generell lebt Ibarras Musik aus komplexen Strukturen in unterschiedlichen Klangkonstellationen - immer zwischen Verdichtung und Auflösung aus wechselnden Perspektiven. Eruptive Ausbrüche und irisierende Klangflächen begegnen einander unvorbereitet. Die musikalischen Ereignisse sind entweder auf einen Moment ausgerichtet oder provozieren eine neue Wahrnehmung - und einige konfrontieren mit im Gedächtnis abgespeicherte Erwartungen.
    "Wenn man davon ausgeht, dass diese Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und in die Zukunft gerichteter Erwartung für jedes musikalische Ereignis konstitutiv ist, dann zeichnet sich Víctor Ibarras Werk durch eine kritische, auf das gänzlich Unbekannte abzielende Neuzusammensetzung des gesamten Systems aus" - so fasst der Autor im Booklet den Kern der Kompositionssprache Ibarra’s zusammen. Zwischen "Schwellen", "Kanten" und "Flächen" ereignet sich das musikalische Geschehen der einzelnen Stücke, die sich im Detail unterscheiden, aber auch gleichbleibende Elemente erkennen lassen. Vor allem bezüglich der instrumentalen Besetzung, die virtuose solistische Partien ausgewählter Instrumente mit diversen Ensemblekombinationen konfrontiert.
    Musik: Víctor Ibarra - "Química del agua"
    Das Schlusswerk dieser interpretatorisch differenzierten und teilweise äußerst packenden Aufnahme mit Kammermusik von Víctor Ibarra liefert auch den Titel für diese Portrait-CD: "La Dimension Fragile". Wirklich neues Terrain betritt Ibarra mit seinen Kompositionstechniken für in Neuer Musik geschulte Ohren nicht und trotzdem spürt man seine Idee, Brüche und Verwandlungen, Erwartungshaltungen in wechselnden Kontexten zu befragen. Es sind vor allem die Intensitäten der jeweiligen Brüche und Schnitte, die beim Hören körperlich erfahrbar werden und den Horizont des scheinbar Erwartbaren in verschiedenen Dimensionen neu aufspannen.
    Musik: Víctor Ibarra - "La dimensión frágile"
    Soweit abschließend ein Ausschnitt aus "La dimensión fragile" für Ensemble von Víctor Ibarra. Vorgestellt wurde Ihnen heute die gleichnamige Portrait-CD mit Kammermusikwerken des mexikanischen Komponisten. Die Aufnahmen sind mit dem Ensemble Vertixe Sonora unter der Leitung von Nacho de Paz entstanden. Erschienen ist die CD unter dem Titel "La dimensión fragile" beim Label NEOS, im Vertrieb erhältlich über HARMONIA MUNDI.
    Víctor Ibarra - "The Dimension of the Fragile"
    Ensemble Vertixe Sonora
    Leitung: Nacho de Paz
    Label: NEOS