Mittwoch, 24. April 2024

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Neue Musik aus Island
Begegnung mit Gunnar Andreas Kristinsson

Gunnar Andreas Kristinsson gibt der zeitgenössischen Musikgeschichte Islands eine sehr persönliche Stimme, ohne vordergründig an die Volksmusiktradition der Insel anzuknüpfen. Interpreten der isländischen Musikszene haben jetzt seine Kammer- und Ensemblemusik eingespielt.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 04.07.2021
    Ein Mann mit aufgewühlten Haar steht an einer Klippe vor tosendem Meer und schaut mit ernsthaften Blick in die Weite.
    Die Natur Islands ist in Gunnar Andreas Kristinssons Musik abstrahiert immer zugegen (Heimir Freyr Hlöðversson)
    Musik: G. A. Kristinsson - "Sisyfos". CAPUT Ensemble
    Island liegt dicht am Polarkreis und ist mit einer Fläche von 103.000 Quadratkilometern nach Großbritannien die zweitgrößte Insel Europas. Seit dem Jahr 1380 firmiert Island mit Norwegen unter dänischer Krone, ehe es 1944 die Mitgliedschaft aufkündigt und sich seither als selbständige Republik behauptet.
    Islands gewaltige und weite Naturlandschaft dominiert heute auch die künstlerischen Ausdrucksformen und Formate. Die Suche nach einer spezifischen Musikgeschichte mag auf eine durchaus pulsierende Volks- und Pop-Musikszene verweisen, die in den letzten Jahren breitenwirksam vor allem mit Namen wie der Sängerin Björk assoziiert wird. Eine, mit dem übrigen Europa vergleichbare, über Jahrhunderte gewachsene klassische Musiktradition gibt es jedoch nicht. Als erster wichtiger Repräsentant einer isländischen Orchesterkultur gilt der Komponist Jón Leifs, 1899 geboren und 1968 gestorben. Ihm ist es zu verdanken, dass in den 1920er-Jahren erstmals ein Symphonieorchester nach Island kommt.
    Als wichtiger Vertreter der gegenwärtigen zeitgenössischen Komponistenszene Islands gilt Gunnar Andreas Kristinsson. Das Major-Label SONO Luminis hat eine CD mit fünf kammermusikalischen Werken und Ensemblestücken Kristinssons unter dem Titel "MOONBOW" veröffentlicht. 2020 wurden die Stücke von isländischen Ensembles eingespielt - in den beiden Konzertsälen der Harpa Reykjavik Concert Hall in der isländischen Hauptstadt.

    Reflektion eines Mythos

    Das klanglich unmittelbar in den Bann ziehende Album eröffnet mit dem Ensemblestück "Sisyfos" für 13 Musiker und Solo-Klarinette, 2014 als Auftragswerk für den isländischen Rundfunk entstanden. "Sisyfos" für Klarinette und Ensemble erinnert an den bekannten gleichnamigen griechischen Mythos, demnach Sisyfos für seine chronische Hinterlistigkeit bestraft und gezwungen wurde, vergeblich einen riesigen Felsbrocken einen Hügel hinauf zu rollen, nur um zuzusehen, wie dieser immer wieder zurückrollt.
    Die Klarinette, gespielt von Ingólfur Viljálmsson verkörpert hier den Felsbrocken, während die 13 Ensemblemusiker den Fluch des Berges repräsentieren. Das eingesetzte Instrumentarium entspricht einem Sinfonieorchester, allerdings in solistischer Besetzung. Hörbar werden in dem einsätzigen Werk über knapp 20 Minuten sehr sinnliche, teils abrupt abreißende Melodielinien, die unterschiedlichen kompositorischen Ansätzen entspringen. Kontrastierende Stimmungen bestimmen das musikalische Geschehen, das einzelne Passagen ineinander übergehen lässt. Verschiedene Prozesse entfalten sich in permanenten kleinen Bewegungen und lassen Raum für bildhafte Fantasie.
    Musik: G. A. Kristinsson - "Sisyfos". CAPUT Ensemble
    Gunnar Andreas Kristinsson wird 1976 in Reykjavik geboren und studiert zunächst am dortigen Konservatorium bei Kjartan Olafsson und Atili Heimir Sveinsson Komposition. Bei Krzystof Meyer setzt er das Studium an der Musikhochschule in Köln fort, ehe er schließlich 2004 in Den Haag am Königlichen Konservatorium bei Martijn Padding, Diderik Wagenaar und Clarence Barlow seine Ausbildung mit einem Master beendet. Seit 2009 lebt und arbeitet Kristinsson wieder in seiner Heimat, wo auch die fünf Kompositionen für das aktuelle Album "Moonbow" entstanden sind, die einen sehr facettenreichen Einblick in die persönliche Klangwelt des Komponisten geben.

    Dramatische Spannungsbögen

    Seine Kompositionen beginnen überwiegend statisch, meist sparsam instrumentiert, ehe das musikalische Geschehen langsam in Bewegung gerät und sich harmonisch wie rhythmisch entfaltet.
    Um ein isländisches Volkslied kreist variationsartig das Ensemblestück "Patterns II b" aus dem Jahr 2016. Kristinsson spielt hier mit Halbtonschritten und konstruiert eine chromatische Melodiestruktur. Ursprünglich für Gamelan und westliche Instrumente konzipiert, entsteht es bereits 2004 im Rahmen eines Workshops mit dem niederländischen Ensemble Multifon. Erst Jahre später nimmt Kristinsson eine Transkription für Xylophon, Vibraphon, Marimba, Violine und Bass-Klarinette vor - ein dicht gewebter Satz mit vielschichtig changierenden Klangfarben. Die Uraufführung findet 2016 mit dem Reykjavik Chamber Orchestra statt, in der aktuellen Einspielung hören Sie Mitglieder des CAPUT Ensemble.
    Seit seiner Gründung 1987 unter der Leitung des Klarinettisten Guóni Franzson zählt CAPUT zu den bekannteren Klassikformationen in Island. Mit einem Repertoire, das sich auf das 20. und 21. Jahrhundert konzentriert, hat es bereits über 20 CDs bei international renommierten Labeln eingespielt.
    Musik: G. A. Kristinsson - "Patterns II b". CAPUT Ensemble
    Für den CD-Titel "Moonbow" steht das gleichnamige Streichquartett, gemeint ist der Mondregenbogen oder weiße Regenbogen. Erzählt wird eine musikalische Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, um dieses seltene Naturphänomen zu erleben. Das Auf und Ab des Stücks evoziert die fragmentierte und verzerrte Natur der Erinnerung, die eine schwer fassbare Vision rekonstruiert. Gunnar Andreas Kristinsson gestaltet mit dramatisch angelegten Spannungsbögen. Im Auftrag des renommierten kanadischen Quatuor Bozzini wird es 2017 uraufgeführt und im selben Jahr für die Icelandic Music Awards nominiert. Die Jury hielt es für "ein kraftvolles und fortschrittliches Stück, komponiert mit kreativem Geschick und voller Einsicht". In der aktuellen Einspielung hören Sie das 2012 gegründete Siggi-String Quartett.
    Musik: G. A. Kristinsson - "Moonbow". Siggi String Quartett

    Permanente Transformation

    Gunnar Andreas Kristinssons Kompositionssprache zeugt von großem Einfallsreichtum und unterschiedlichen kompositorischen Ansätzen. Deutlich hörbar ist eine Beschäftigung mit Minimal Music, Mikrotonalität und Spektralmusik. Das Stück "Passacaglia B", einem Trio für Bassklarinette, Harfe und Schlagzeug, greift die spanische Form der Passacaglia des 17. Jahrhunderts auf, basierend auf Variationen und bestimmten Bassfiguren, die zwischen allen Instrumenten ausgetauscht und von sich unterschiedlich schnell wiederholenden Melodiemustern überlagert werden.
    Hier orientiert sich Kristinsson an der graphischen Darstellung des Pascal’schen Dreiecks. Die Notenwerte dehnen sich mit konstant wachsender Geschwindigkeit aus. Was zunächst wie Ostinato klingt, erstreckt sich zunehmend über den Rest der Partitur, wodurch ein Gefühl von Instabilität und ständiger Veränderung entsteht. Die Komposition wird hier vom Harfen-Schlagzeug-Duo Duo Harpverk und dem Klarinettisten Ingólfur Vilhjálmsson an der Bassklarinette klanglich sehr eindrucksvoll gestaltet.
    Musik: G. A. Kristinsson - "PASsaCAgLia B". Duo Harpverk & Ingolfur Vilhjalmsson (Klarinette)
    Das letzte Werk dieser CD, "Roots" für 14 Ensemblemusiker beschäftigt sich eher meditativ mit Obertonreihen. Der erste Teil konzentriert sich auf die Obertöne, die von nur einer Basis erzeugt werden. Aber da jedes Instrument seine eigene einzigartige Klangfarbe und damit sein eigenes Obertonspektrum mitbringt, wird aus dem einfachen Konzept schließlich ein komplexes Klanggewebe.
    Musik: G. A. Kristinsson - "Roots". CAPUT Ensemble

    Experimentierfreudigkeit

    Leider ist durch das etwas minimalistisch gehaltene Booklet nur wenig über die konkreten kompositorischen Ansätze zu erfahren. Wer sich mehr mit dem Komponisten beschäftigen möchte, dem sei die website gunnarandreas.com empfohlen. Dort betont der Komponist in einem Interview die Bedeutung der Gegenwart, die ihn dazu herausfordert, immer wieder aus neuen Perspektiven heraus zu komponieren. Dem Hörer sollten die Kompositionen idealerweise eine Reise an exotische Orte vermitteln, wo die Verbindung von Natur und Kultur auf immer neue Weise erscheint. Hören Sie noch den dritten und letzten Teil "Roots III", der das melodische Material aus den oberen Teilen einer Reihe von Obertönen nutzt, was zu einer chromatischen, beinahe mikrotonalen Tonhöhenbewegung führt.
    Musik: G. A. Kristinsson - "Roots". CAPUT Ensemble
    Soweit der 3. Teil aus dem Ensemblestück "Roots" in einer Interpretation mit dem CAPUT Ensemble. Vorgestellt wurden Ihnen heute Kammermusik und Ensemblewerke des aus Island stammenden Komponisten Gunnar Andreas Kristinsson. Zu hören war das Siggi String Quartett, das CAPUT Ensemble und das Duo Harpverk. Unter dem Titel "Moonbow" ist die Aufnahme beim Label SONO Luminis erschienen, im Vertrieb erhältlich über NAXOS.
    Gunnar Andreas Kristinsson - MOONBOW
    Siggi String Quartet, CAPUT Ensemble, Duo Harpverk
    Musikalische Leitung: Gudni Franzson
    Label: Sono Luminus (USA)
    DSL 922246
    EAN: 53479 22462